Schattenmelodie
beobachtet hatte.
„Oh je, danke.“ Ich simulierte ein bisschen Zittern und kroch hastig in den Mantel. Tatsächlich mussten inzwischen Minusgrade herrschen. „Ich war völlig in Gedanken, aber habe mich gerade gewundert, warum es so furchtbar kalt ist.“ Verschämt lächelte ich ihn an, wich aber seinem Blick aus.
„Das müssen sehr gewichtige Gedanken gewesen sein“, sagte er, lächelte zurück und zeigte dabei zwei Reihen makelloser Zähne. Seine fast schwarzen Augen leuchteten unter einem altmodischen Hut hervor, der ihm ausnehmend gut stand. Heute trug er seine Haare offen, sodass seine Locken das markante Gesicht einrahmten.
Ich schätzte ihn auf mindestens einen Meter neunzig Größe. Warum beunruhigte er mich, obwohl sein Gesicht Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte? Ich musste daran denken, was Kira heute Morgen gesagt hatte, dass sie sich glücklich und unglücklich zugleich fühlte. In der Gegenwart dieses Typen fühlte ich mich wohl und unwohl zugleich.
„Na ja, so wichtig nun auch wieder nicht.“ Ich zog meinen Schal aus der Tasche und band ihn mir zur Bekräftigung, dass es wirklich kalt war, um. Ich dachte, er würde in die Kneipe zurückgehen, aber er machte keine Anstalten, sondern blieb neben mir.
„Bist du versetzt worden?“, fragte er.
„Kann man wohl sagen“, antwortete ich und fühlte mich versetzt von Tom.
„Dieser Barkeeper ist ein Kauz. Mich hat er auch noch nie angelächelt.“
Ich zuckte zusammen. Hatte mir etwa ins Gesicht geschrieben gestanden, was ich über Tom dachte und dass ich enttäuscht von ihm war? Um mir nicht die Blöße zu geben antwortete ich: „Nein, nein, er ist in Ordnung. Ich kenne ihn schon lange.“
Jetzt sah er mich erstaunt an.
„Tatsächlich?“
„Ja, wir wohnen im gleichen Haus“, erklärte ich mit unbekümmerter Stimme und staunte selbst über das, was mir so über die Lippen kam.
„Oh, ich hatte den Eindruck, du wärst völlig neu in der Stadt.“
„Nein, ich lebe seit sieben Jahren hier.“
„Seit sieben Jahren? Aber dann warst du zum ersten Mal im Absturz .“
„Ja, das stimmt.“ Na ja, fast zumindest.
„Und das, obwohl du Tom schon so lange kennst?“
Jetzt wurde es unangenehm, ich war drauf und dran, mich in ein Lügengeflecht zu verstricken.
„Na ja, kennen ist übertrieben. Wir wohnen im gleichen Haus. Und ich bin auch nur zeitweise in der Stadt.“ So, dass war jetzt immerhin die halbe Wahrheit.
„Ich bin übrigens Janus“, sagte er.
„Neve“, antwortete ich. Im selben Moment erreichten wir den Wetterplatz 8. „Hier wohne ich.“
„Hier?“ Er sah an der bröckeligen Fassade hoch und machte den Eindruck, als glaubte er mir kein Wort.
„Ja. Von außen schon etwas kaputt, aber es ist günstig“, erklärte ich.
„Das Haus habe ich noch nie beachtet, obwohl ich hier manchmal entlangspaziere.“
„Vielleicht bist du immer zu sehr in Gedanken.“
Er schmunzelte. Links und rechts zeigten sich dabei Grübchen auf seinen Wangen. Wie alt mochte er sein? Siebenundzwanzig oder Achtundzwanzig? Sein Lachen war wirklich hübsch, aber gleichzeitig spürte ich plötzlich ein Frösteln. Ein Frösteln? Das konnte nicht sein. Das war Einbildung. Ich streckte mich ein wenig. Ganz schnell war das Gefühl auch wieder verschwunden.
„Hat mich gefreut, Neve. Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder im Absturz .“
„Vielleicht“, sagte ich und dachte: hoffentlich nicht.
„Und vergiss deinen Mantel nicht wieder irgendwo. Du holst dir sonst noch eine Lungenentzündung bei dem Wetter.“
„Danke noch mal.“ Ich wandte mich zur Haustür und spürte, wie er mir nachsah, bis sie ins Schloss fiel.
Ich stieg in der Dunkelheit die staubigen Treppen hinauf und ärgerte mich über Tom. Nur mit welcher Berechtigung? Schließlich lag es auch an mir, dass überhaupt kein Gespräch zustande gekommen war. Das nächste Mal musste ich offensiver auftreten. Ich wollte ihn kennenlernen. Und ich wollte, dass er ganz und gar Tomaso wurde, ein erfolgreicher Komponist. Schließlich war es noch nie vorgekommen, dass ich eine Aufgabe, die sich mir stellte, nicht auch meisterte.
Die Idee, hier zu wohnen war gar nicht so schlecht. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich in der Nähe von bestimmten Menschen niederließ, bis sie mich nicht mehr brauchten. Und auf seltsame Weise mochte ich dieses Haus, obwohl es so alt und hässlich war.
Ich beschloss, zuerst nach Grete zu sehen und löste mich im Hausflur in Luft auf. Durch das
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