Schattenmelodie
ich gleich im schwarzen Wollkleid vor ihm stehen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und strich ihm mit meiner unsichtbaren Hand über die Schulter. Sie hatte eine schöne Form, auch wenn ich von ihrer Wärme und Beschaffenheit nichts mitbekam.
Wow, ich hatte ihn zu ersten Mal angefasst! Ich hatte es gewagt!
Ich rauschte durch das angelehnte Küchenfenster und landete auf dem Dach des Nachbarhauses, das sich hinter der Remise befand. Sogleich schob ich mich hinter einen großen Schornstein und kam langsam zu mir. Auf dem Dachboden oder dem Dach der Nummer 8 sichtbar zu werden, wäre zu riskant gewesen. Ich wusste nicht, wann Grete mich aufsuchen würde, und brauchte eine Pause.
Was würde aus Tom und seinem geheimen Flügel, was aus Grete, Emma und Viktor werden, wenn sie aus dem Haus geworfen wurden? Sie machten nicht den Eindruck, als könnten sie eine Miete, die sich versechsfachte, aufbringen. Es half nichts, ich musste mehr über diese Zusammenhänge herausfinden.
Meine Gedanken bewegten sich zu Tom zurück. Ob er sich an den Traum erinnern würde? Ob er irgendetwas an seiner Schulter gespürt hatte? Manche nahmen solche Berührungen wie einen leichten Windzug oder ein flüchtiges Wärmegefühl wahr. Manche griffen auch unwillkürlich an die Stelle. Manche lächelten und hatten ein Empfinden von Beruhigung. Aber Tom hatte mir keinerlei Zeichen gegeben.
Kapitel 14
Ich spähte hinüber zum Wetterplatz 8. Von hier sah das Haus schmaler und niedriger aus als die Häuser daneben, so als würden sie es langsam aber stetig von links und rechts zusammendrücken, bis es eines Tages einfach nicht mehr vorhanden wäre.
Eine Katze tauchte auf der Remise auf. Sie lief ein Stückchen auf dem Dach entlang und sprang in den Hof des alten Hauses. Es war dieselbe Katze, die beim ersten Mal aus dem Keller gekommen und an mir vorbeigeflitzt war. Sie lebte also noch.
Die Dachluke schob sich beiseite, ein Kopf tauchte auf und schaute sich um. Grete. Sie kletterte aus der Luke, zog sie wieder zu und kroch auf allen Vieren zum Schornstein. Erneut staunte ich, was sie in dieser Höhe suchte, wenn sie ihr augenscheinlich solche Angst bereitete.
Ich hatte mir überhaupt nichts zurechtgelegt. Irgendwie hoffte ich, dass sie unser Zwiegespräch letztens inzwischen ihrer eigenen Fantasie zuschrieb. Aber da hatte ich mich gewaltig getäuscht.
Grete saß zusammengekauert neben dem Schornstein, sodass sie vom Haus aus niemand sehen konnte. Es war wolkig, aber der Himmel riss immer mal auf und dann schickte die Sonne ein paar blasse Strahlen hindurch. Die Temperatur schätzte ich auf zwei oder drei Grad Plus. Grete trug keine Mütze. Ihre langen hellblonden Haare flatterten im Wind. Ihre türkisblauen Augen schienen in weite Ferne zu schauen und gleichzeitig tief nach innen.
Ich näherte mich ihr, setzte mich neben sie, folgte ihrem Blick und versuchte herauszufinden, ob sie etwas Bestimmtes am Horizont fixierte. Sie zeigte keine Regung.
Deshalb erschrak ich umso mehr, als sie plötzlich laut sagte: „Da bist du ja. Ich dachte, du würdest nicht kommen.“
Ich war so verdattert, dass ich nichts antwortete.
„Sag ruhig was. Ich weiß, dass du da bist.“
‚Hi‘, sagte ich pflichtschuldig in ihrem Kopf.
Grete sprach mit mir, als wäre ich ein greifbarer Mensch, der neben ihr saß. So etwas war mir noch nie passiert. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte ein süßes Gesicht, große runde Augen, ein rätselhaftes Leuchten darin, runde Bäckchen, ein rundes Kinn und einen kleinen Mund, fast wie ein Herz.
„Eigentlich müsste ich schockiert sein, dass du da bist, aber wie es scheint, ist es andersherum. Ich merke das.“ Sie wandte sich suchend um. „Sag mir, wo du dich aufhältst, dann kann ich wenigstens in die richtige Richtung sprechen.“
‚Ich sitze links neben dir.‘
Sie wandte sich in meine Richtung.
‚Ist es nicht ein bisschen kalt ohne Mütze?‘, fragte ich sie und versuchte, der Situation einen möglichst entspannten Anstrich zu geben.
„Nein, es ist ganz seltsam, je kälter es draußen wird, desto wärmer kommt es mir vor. Mein Körper spinnt. Und neuerdings nehme ich Geister wahr. So wie dich. Verrückt, oder?!“
‚Nein, das ist nicht verrückt.‘ In dem Moment, wo ich das sagte, kam mir ein Verdacht. War Grete etwa jemand, der magische Fähigkeiten ausbildete?
„Ich war die ganze Woche in der Schule“, sagte Grete und strich sich eine Haarsträhne aus dem
Weitere Kostenlose Bücher