Schattenmelodie
sind. Aber ich spreche nicht mit ihnen.‘
‚Warum nicht?‘
‚Sie sind zu alt für mich. Sie würden mich niemals ernst nehmen.‘
‚Wer zum Beispiel?‘
‚Tomaso – er ist in Ordnung. Aber er ist auch ein Idiot. Vielleicht würden meine Eltern mehr auf die Reihe kriegen, wenn es ihn nicht gäbe. Vielleicht wären wir dann aber auch schon längst tot.‘
Ich hätte gern erfahren, wer Tomaso ist, aber die Frage konnte ich ihr als innere Stimme nicht stellen, denn sie selbst wusste es ja.
Sie warf das eine Ende des roten Schals, der ihr über die Schulter gerutscht war, mit wütender Geste nach hinten und wandte ihren Kopf plötzlich ruckartig zu der Seite, an der ich neben ihr herlief. Reflexartig entfernte ich mich ein Stück. Hatte sie mich bemerkt? Nein, das konnte nicht sein. Schon nur einen Menschen am Tag zu treffen, der eine Begabung dafür hatte, unsichtbare Leute wahrzunehmen, war etwas sehr Seltenes. Zwei waren einfach zu unwahrscheinlich.
Die junge Frau ging noch ein paar Schritte, dann wechselte sie die Straßenseite und steuerte auf die Toreinfahrt eines Hauses zu.
Ich hatte mich so auf sie konzentriert, dass ich gar nicht auf den Weg geachtet hatte. Wir waren am Wetterplatz angelangt, dem Ende einer Sackgasse, die Wetterstraße hieß. Hier wurde sie zu einer Einbahnstraße und führte in einer Schlaufe um eine kleine Insel mit Bäumen, einer Bank und Rasen. Drum herum standen aneinandergereiht schmuck sanierte Häuser, die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden waren.
Nur das Haus, dessen großes, schweres Tor sie jetzt aufstemmte, war noch nicht restauriert worden. Wie ein Schmutzfleck duckte es sich zwischen seinen schicken Nachbarn in mintgrün, cremeweiß und zartrosa, schien von ihnen zusammengedrückt zu werden, als wollten sie es in eine zweite Reihe drängen. Das Dach besaß einen recht hohen Giebel. Statt einfacher Dachluken hatte es zwei richtige Gauben mit kleinen Fenstern und in der Mitte ein großes, halbrundes Fenster, über dem ein verrosteter Wetterhahn thronte. Wahrscheinlich stand er in Zusammenhang mit dem Namen des Platzes.
Einige Balkone waren abgebrochen und die Balkontüren notdürftig mit rostigen Geländern versehen worden. Die Fassade war rußig dunkelgrau. Überall bröckelte der Putz. Nur an einigen Stellen ließ sich noch erkennen, dass das Haus einst ein schönes Jugendstilmotiv geschmückt haben musste.
Die meisten Fenster starrten vor Dreck und die Wohnungen dahinter schienen unbewohnt. Die großen Bogenfenster im Erdgeschoss waren mit maroden, ehemals grün gestrichenen Holzjalousien verrammelt. Durch die Löwenköpfe links und rechts neben dem Eingangstor, die auf schlichten Säulen ruhten, wirkte der Eingang fast gespenstisch.
Mit einem lauten Klick fiel die schwere Tür hinter uns ins Schloss. Augenblicklich umgab uns Finsternis. Die junge Frau zog ein Handy aus der Jackentasche hervor und knipste die eingebaute Taschenlampe an. Hier drinnen sah es nicht besser aus als draußen: zerbeulte Briefkästen, von denen die meisten aufgebrochen waren. Überall lag Werbemüll herum.
Wir stiegen hinauf in die zweite Etage. Mit einem alten Schlüssel, den die meisten Leute heutzutage nur noch für Kellerräume oder Schuppen benutzen würden, schloss sie die Wohnungstür auf der linken Seite auf. Ich huschte mit hinein … und verflüchtigte mich erschrocken hoch zur Decke. Denn in diesem Flur gab es so gut wie keinen Platz. Er ähnelte eher einem bis auf den letzten Zentimeter zugestellten Gerümpellager denn einem Wohnungsflur.
„Grete?“, hörte ich die Stimme einer Frau hinter einer angelehnten Tür.
„Ja“, murmelte Grete, nahm die Mütze ab, zog den Mantel aus und legte beides auf einen Stapel alter Zeitschriften, der etwas höher war als sie selbst und jeden Moment umzukippen drohte. Mir fielen ihre Augen auf. Sie hatten ein ungewöhnliches Blau, fast ein Türkis.
In der Küche und den drei Zimmern sah es ähnlich aus wie im Flur. Die Räume glichen einem Möbellager in einem Laden für Antiquitäten und Bücher. Schmale Pfade schlängelten sich zwischen unzähligen Dingen hindurch, so vielen, dass das Auge sie gar nicht mit einem Mal erfassen konnte.
Im Erkerzimmer saß eine kleine, rundliche Frau auf einem Sofa vor dem Fenster, hatte ein Buch auf dem Schoß und trank aus einer angeschlagenen Porzellantasse Tee. Hinter ihr waren die Fensterscheiben halb mit Büchern zugestellt.
Grete gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hallo
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