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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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Werkstatt und die Keller hatten trübe Fenster, hinter denen sich nur schwarze Leere ausbreitete. Doch oben im dritten Stock brannte jetzt ein Licht. Ich glitt weiter hinauf, an Gretes Fenster vorbei – sie schlief, mit einem kleinen friedlichen Lächeln auf den Lippen.
    Die Wohnung unter dem Dachboden war zunächst nicht infrage gekommen, denn dann hätte ich alles auch mit normalem Gehör überdeutlich hören müssen. Doch von hier draußen fiel mir ein zugemauertes Fenster im Seitenflügel auf. Der Seitenflügel hatte in jeder Etage nur ein großes Fenster, das jeweils zu einem Hinterzimmer gehörte. In der dritten Etage existierten nach außen zwar noch die Fensterscheiben und der Rahmen, aber dahinter befand sich eine Mauer. Ich suchte nach einer Öffnung, durch die ich in die Wohnung gelangen konnte. Das schmale Fenster neben dem Treppenhaus, aus dem das Licht kam, war einen Spaltbreit gekippt. Das genügte.
    Ich glitt hinein und fand mich in einem spartanisch eingerichteten Raum wieder: ein schmales Bett, über das eine grüne Wolldecke gebreitet war, ein Tisch, zwei Stühle, eine Spüle und ein Durchlauferhitzer darüber. Im Spülbecken befanden sich ein paar schmutzige Tassen und Teller. Daneben knisterte eine alte Gasheizung. Die Küche. Gegenüber stand ein großer, alter Kleiderschrank, der hier, wie auch das Bett, ziemlich deplatziert wirkte. Ich wollte gerade in den vorderen Zimmern nachsehen, denn seit ein paar Minuten hörte ich nichts mehr und befürchtete schon, dass der Klavierspieler aufgehört hatte. Doch dann erklang wieder diese Melodie. Sie war jetzt recht deutlich. Und sie kam nicht aus den vorderen Zimmern. Sie kam aus dem Schrank.
    Die Türen waren verschlossen und ich konnte sie nicht öffnen, ohne mich zu materialisieren, aber zum Glück hatten sie ein altes Schlüsselloch, das groß genug war, um hindurchzugelangen.
    Im Innern des Kleiderschranks herrschte Leere. Die Hinterwand fehlte. Stattdessen fand ich mich vor einer weiteren Tür, die durch die Mauer dahinter führte. Sie war verschlossen, zum Glück aber so verzogen, dass ich durch einen schmalen Spalt in den Raum dahinter schlüpfen konnte.
    Staunend sah ich mich um.
    Vor mir breitete sich das Refugium eines Komponisten aus. Der Raum war ungefähr vierzig Quadratmeter groß und rundum schallisoliert. Kein Wunder, dass ich alles nur gedämpft gehört hatte. In der Mitte stand ein schwarzer Flügel. Auf dem Boden lagen überall Notenblätter verstreut. Und in der Ecke befand sich eine Matratze mit einem zerknautschten Kissen und einer schwarzen Wolldecke.
    Ich hatte mit einem älteren Mann zwischen vierzig oder fünfzig oder einer Frau gerechnet, aber da saß ein ziemlich junger Typ auf einer Klavierbank hinter den Tasten, studierte die Noten vor sich und sah überhaupt nicht wie ein Komponist aus. Er war ein paar Jahre älter als ich, höchstens Ende zwanzig. Seine etwas längeren, dunkelblonden Haare standen, wahrscheinlich mit Haarspray bearbeitet, in alle Richtungen ab. Er trug ein Muskelshirt und eine blaue Röhrenjeans und wirkte eher wie der Sänger einer Rockband. Ich starrte ihn an.
    Dann begann er wieder zu spielen. Dieses geheimnisvolle Stück. Und jetzt, wo ich es ungedämpft hören konnte, zog es mich vollends in seinen Bann. Es war unbeschreiblich. Ich wünschte, er würde nicht aufhören zu spielen. Doch wieder kam er ins Stocken, brach ab, aber fing diesmal nicht von vorn an, sondern hieb mit den Fäusten auf die Tastatur, sodass ich einen mörderischen Schreck bekam. Und das war auch gut so. Sonst hätte ich völlig vergessen, dass ich bald wieder sichtbar wurde.
    Ohne zu überlegen, klinkte ich mich in seine Gedankenwelt ein und sprach ihn an: ‚Hör auf damit. So wird es bestimmt nichts!‘
    Ich agierte einfach, obwohl ich sonst immer nur auf Stimmungen von Menschen reagierte. Die Musik schien mich zu verwirren wie eine Droge.
    Er hieb als Antwort nur noch einmal auf die Tasten. Scheinbar hielt er nichts von inneren Stimmen, die einem gut zureden wollten. Die schrillen Töne gingen mir durch Mark und Bein, obwohl ich doch gar nicht vorhanden war. Das war ein ganz schlechtes Zeichen.
    Ich merkte, wie mir die Kontrolle über meine Unsichtbarkeit entglitt. Ich musste raus hier, sofort! Er würde einen Vollschock kriegen, wenn er mich plötzlich auftauchen sah. Und ich eine saftige Abmahnung durch den Rat, vielleicht sogar Realwelt-Verbot. Das durfte nicht passieren. Nicht jetzt. Denn ich war mir sicher, dass ich

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