Schattenmelodie
Mama.“
„Wie geht’s dir?“
„Gut. Ich hab Hunger.“
„Viktor hat nichts eingekauft. Und Geld kommt erst wieder morgen aufs Konto. Aber wir haben noch Chinanudeln. Davon kannst du dir eine Schüssel machen.“
Grete verließ wortlos den Raum, öffnete die nächste Tür und rief ein „Hallo“ hinein. Eine männliche Stimme antwortete. Auf dem Bett – dem einzigen freien Platz in diesem Zimmer – saß ein Mann, der augenscheinlich Gretes Vater war, und tippte in ein Laptop. Neben ihm stand eine halbleere Flasche Wein auf dem Boden.
„Diesmal wird es ein Bestseller, ich weiß es. Dann wird die Zicke im Jobcenter hoffentlich endlich begreifen, warum man mich in kein Callcenter stecken sollte. Aber ich muss mich grad echt konzentrieren.“
‚Für Wein hat er natürlich immer Geld, dieser Versager. Vielleicht sollte ich „die Zicke“ davon mal in Kenntnis setzen‘, traf mich ein Gedanke von Grete, während sie die Tür wieder schloss und durch die Tür gegenüber das kleinste Zimmer betrat. Es ging auf den Hof hinaus. Hier passten nur ein schmales Bett und ein winziger Schreibtisch hinein, aber das Chaos war weniger groß. Allerdings war der Raum sehr düster, da die Wände schwarz angemalt waren, schwarz mit weißen und roten Farbflecken in diversen Größen, die aussahen wie die Tintenflecke auf dem Stoffbeutel.
Grete schmiss ihn aufs Bett und bahnte sich einen Weg in die Küche. Dort quoll der Mülleimer bereits über von leeren Verpackungen von Chinanudeln. Sie angelte die letzte volle Packung aus dem Hängeschrank über der Spüle, drehte sie einmal in den Händen und warf sie wütend zu dem Müll. Dann trat sie ans Fenster und starrte in das schwarze Nichts des Hinterhofes.
Er war winzig, umschlossen von einem schmalen Seitenflügel an der linken Seite des Hauses, nach hinten von der Rückseite einer Remise, die bis zur zweiten Etage reichte und dahinter den Blick auf ein benachbartes Haus freigab, und rechts von einer nicht verputzten Brandmauer des Nachbarhauses, der schon einige Ziegel fehlten.
Hui, da hatte ich wohl einen größeren Fall aufgegabelt. Nicht nur Grete, sondern die ganze Familie brauchte meine Hilfe. Das war klar. Ich würde eine Weile regelmäßig herkommen müssen. Langsam ließ meine Konzentration nach. Gleich würde ich wieder sichtbar werden. Also zog ich einen der neun Fünf-Euro-Scheine aus dem Portemonnaie, die mir die Verkäuferin als Wechselgeld für die Marmelade gegeben hatte, und legte ihn halb unter eine Kaffeetasse, die auf dem Fensterbrett stand. Er war ebenfalls noch unsichtbar. Ich hoffte, Grete würde ihn entdecken, sobald ich mich im Hausflur wieder materialisierte.
Ich lehnte mich in dem dunklen Treppenhaus an die Wand, von der die Farbe großflächig abblätterte, und empfand eine ungewohnte Schwere im ganzen Körper. Sie schien nicht nur von meiner Begegnung mit Grete und ihren Eltern zu kommen, sondern von dem ganzen Haus. Waren sie die einzigen, die diese Ruine noch bewohnten? Die Türen der Wohnungen in der ersten Etage und gegenüber in der zweiten hatten keine Namensschilder. Ich war so erschöpft von diesem Tag, dass ich am liebsten sofort nach Hause geflogen wäre, aber ich musste mich erst ein wenig regenerieren, um die Reise antreten zu können.
Wahrscheinlich war es das Beste, mich auf den Weg in die Bibliothek zu machen und dort zwischen den Büchern ein wenig zu entspannen. Doch statt die Stufen hinunterzusteigen und das Haus zu verlassen, stieg ich lautlos hinauf in die oberste Etage. Es hatte nur drei Stockwerke, eins weniger als üblich im Prenzlauer Berg. Deswegen schaute das alte Gemäuer noch hilfloser zwischen den anderen aus.
Hier oben schien noch jemand zu wohnen. Zumindest stand ein Name an der Tür, handgeschrieben auf einen relativ neuen Zettel, angepinnt mit einer Reißzwecke:
T. Wieland
Ich nahm auch noch die letzten Stufen bis auf den Dachboden. Die Tür war nur angelehnt, weil sie wegen einer halb herausgebrochenen Türangel nicht mehr in den Türrahmen hineinpasste. Ich erschrak, als sie beim Öffnen laut in die Stille hineinquietschte. Einen Moment lauschte ich, aber nichts regte sich im Haus.
Vor mir tat sich ein fast unwirklicher Anblick auf. Links und rechts standen ein paar mit weißen Laken abgedeckte Möbel, wie in einem Schloss, das gerade verkauft worden war. Staub von Jahrhunderten schien darauf zu lagern. Geradeaus, vor dem großen halbrunden Fenster, das von hier drinnen noch größer aussah,
Weitere Kostenlose Bücher