Schattenmelodie
auch deine Freundin nicht. Akzeptiere lieber, dass sie abgehauen ist. Wahrscheinlich hatte sie gute Gründe dafür. Ich hab das auch damals getan mit siebzehn.“
Und dann begann er, die Geschichte seiner Jugend zu erzählen und ich hoffte, dass er Tim überzeugte und ihn von der fixen und sehr gefährlichen Idee abbrachte, sich in der Kanalisation unter dem Humboldthain umzusehen.
Auf einmal wusste ich, wie ich Kira dazu bringen konnte, Tim eine Weile zu vergessen. Tim und Luisa. Ich meine, sie hatten sich zur Begrüßung umarmt und dann hatte ich sie Händchen halten gesehen. Genau das würde ich erzählen. Es war keine Lüge, aber Kira würde ihre eigenen Schlüsse draus ziehen. Sie würde wütend sein, doch irgendwann verrauchte die Wut. Und wenn sie sich dann wiedersahen, dann würde sich ja alles aufklären. Bis dahin aber hätte sie den Kopf frei.
Draußen war es inzwischen dunkel. Schon im Treppenhaus wurde ich wieder sichtbar, ohne dass ich die Verwandlung noch hätte aufhalten können. Ich fühlte mich ziemlich erschöpft. Zum Glück hatte noch niemand die Eingangstür des Hauses abgeschlossen. Ich schlüpfte hinaus.
Der Asphalt war jetzt mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Eiligen Schrittes lief ich zum Kollwitzplatz. Die Marktbudenbesitzer räumten ihre Waren zusammen, die Stände für Obst, Gemüse und Käse wurden bereits abgebaut. Ohne zu überlegen, griff ich nach dem letzten Glas Erdbeerkonfitüre, welches eine Händlerin, die Marmeladen, Honig und handgepresste Fruchtsäfte verkaufte, gerade in eine Kiste tun wollte, und kaufte es.
Okay, ich hatte nun alles erledigt und konnte mich auf den Weg in die Staatsbibliothek machen. Doch statt loszugehen, lehnte ich mich an einen Baum und schaute zu, bis der letzte Marktverkäufer seine Artikel im Auto verstaut hatte und davonfuhr. Sollte ich es wirklich so darstellen, dass Luisa und Tim dabei wären, sich ineinander zu verlieben? Wäre das nicht gemein? Obwohl natürlich eine gewisse Möglichkeit bestand, dass sie sich tatsächlich füreinander interessierten. Allerdings, na ja, so wie Tim sich Luisa gegenüber verhalten hatte, war die sehr gering. Er schien Kira wirklich zu lieben. Ach, es wäre einfach zu Kiras Bestem. Ich würde ihr nur sagen, sie hätten sich die Hände gehalten, und mehr nicht.
Kapitel 3
Eine Bewegung in der Atmosphäre um mich herum riss mich aus meinen Grübeleien.
Immer wenn jemand bepackt mit einem Problem und verhedderten Emotionen in meine Nähe kam, schien das gleichmäßige Muster der Moleküle in der Luft in Unordnung zu geraten. Und diesmal spürte ich das besonders stark.
Ein Mädchen oder eher eine junge Frau, ein paar Jahre jünger als ich, vielleicht im selben Alter wie Kira, ging an mir vorüber. Sie hatte einen schleppenden Schritt, als wenn sie etwas Schwergewichtiges hinter sich herzog. Eine graue Wollmütze saß schief auf ihrem Kopf. Ihre Haare waren hellblond und lagen wie ein Fließ auf ihrem Filzmantel. Sie hatte mehrere Schichten Kleidung übereinander angezogen, Leggins, Stulpen, zwei Wollröcke in unterschiedlichen Längen, und aus ihrem Mantel schauten drei Bündchen verschiedener Pullover und Shirts hervor – alles in unterschiedlichen Grautönen.
Nur ihr Schal leuchtete tiefrot und sah aus wie selbstgestrickt. Ihr schwarzer Stoffbeutel war wild beschrieben mit silbernen und roten Buchstaben, dazwischen zahllose Farbflecke und Kleckse, als hätte man einen Füllfederhalter mit der Spitze zu lange auf Löschpapier gehalten. Ich hatte mich etwas erholt, konzentrierte mich, bis von mir nichts mehr zu sehen war, und folgte der jungen Frau.
Ihre Stimmung wurde von einer Hoffnungslosigkeit dominiert, die mich erschreckte, die aber gemischt war mit einem Trotz, der mich wiederum beruhigte. Ihr Trotz wirkte kalt und scharfkantig, aber er signalisierte Kraft; Kraft, um auszubrechen aus einem inneren Kerker, in den sie irgendetwas hineingetrieben hatte. Ich bewegte mich durch ihre Emotionen wie durch einen zähen Brei und versuchte, etwas Konkretes zu fassen zu bekommen, worauf ich reagieren konnte.
‚Die können mich alle mal!‘ Der Gedanke schoss wie ein Blitz durch das dunkle Gewölk ihres Gemütes.
‚Wer, alle?‘, fragte ich, ohne dass sie die Frage hören konnte, weder im Außen noch in ihrem Innern. Trotzdem folgte eine Antwort:
‚Meine Mutter, mein Vater, die ganze Welt … sind doch alle krank.‘
‚Alle?‘
‚Alle! Na ja, fast … Es gibt Leute, die in Ordnung
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