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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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Innenhöfen führte, zum Stehen. Ich wurde sichtbar und klopfte mir den Schnee von Ärmeln und Weste. Ich hätte doch schon einen Mantel anziehen sollen.
    Eine Weile würde ich erst mal meine Gestalt behalten, um neue Kräfte für die nächste Phase zu sammeln, in der ich mich komplett zum Verschwinden bringen konnte. Anfangs hatte ich es nur eine Minute lang geschafft. Inzwischen konnte ich den unsichtbaren Zustand etwa eine halbe Stunde beibehalten. Wenn ich sehr ausgeruht war und mich besonders konzentrierte, auch ein paar Minuten mehr. Danach brauchte ich jedoch eine längere Pause.
    Am Ende der Straße befand sich das Gebäude, in dem Tim zur Schule ging, und nahm deren ganze Breite ein. Ich lief gemütlich darauf zu und hoffte, Tim bald zu erwischen.
    Noch hatte ich keine Ahnung, dass dieser kleine Ausflug der Auftakt dafür sein würde, mein ganzes wohlsortiertes Leben völlig auf den Kopf zu stellen.
     

Kapitel 2
     
    Bald verließen Trauben von Schülern nach der siebten Stunde das Schulgebäude, aber Tim war leider nicht dabei. Da jeder einzelne Schüler in der zwölften Klasse einen anderen Stundenplan besaß, ließ sich auch über das Sekretariat nicht herausfinden, wann er Schluss hätte. Also wartete ich noch ein paar Minuten, um wieder genügend Kräfte für eine Verwandlung beisammen zu haben, löste mich dann auf und begab mich auf die Suche durch die wenigen Klassenzimmer, in denen noch Unterricht stattfand.
    Leider hatte ich kein Glück. Tim befand sich nicht in der Schule. Vielleicht war irgendetwas ausgefallen oder er war hier heute gar nicht aufgetaucht. Vielleicht hatte er eine Erkältung.
    Das Bett in seiner Wohnung war jedoch ordentlich gemacht und von Tim keine Spur. Auch in der Zeitungsredaktion konnte ich ihn nicht finden. Wahrscheinlich würde ich Kira enttäuschen müssen. An einem Nachmittag in einer Großstadt konnte er überall und nirgends sein.
    Doch dann entdeckte ich ihn auf dem Weg zum Kollwitzplatz bei Jonnys Frittenbude am Mauerpark und erkannte ihn sofort. Mir fiel spontan auf, dass es seine warme und offenherzige Ausstrahlung war, die ihn so gutaussehend machte.
    Ich gesellte mich zu ihm an seinen Stehtisch. Meinen Zustand der Unsichtbarkeit würde ich noch circa zehn Minuten aufrecht erhalten können.
    Jonny kam und stellte ihm einen Glühwein hin. „Geht bei der Kälte aufs Haus.“
    „Danke dir“, sagte Tim. „Hast du mal was von Kira gehört? Ihr kennt euch doch gut“, fragte er Jonny.
    Jonny schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, alter Freund. Aber ich sag dir was, mit Kira, da hast du ein besonderes Mädchen.“
    „Ich weiß“, antwortete Tim und trank ein paar Schlucke.
    „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Sie muss sich finden, und dann wird sie wiederkommen. Sie ist nicht der Typ, auf den man aufpassen muss, weißt du.“
    „Ich hoffe, du hast recht.“
    „Natürlich habe ich recht!“ Jonny machte eine ausholende Geste und grinste.
    Ich wich ein Stück zurück, damit ich seine Hand nicht abbekam. Sie würde einfach durch mich hindurchrauschen, wenn ich unsichtbar war, aber in diesem Zustand mit stofflichen Dingen in Berührung zu kommen, war ein Gefühl, das ich nicht mochte.
    „Keine Fritten heute? Die Liebe, die Liebe, sie schlägt einem auf den Magen“, fragte Jonny und kletterte zurück in seine Bude.
    Tim zerknüllte seinen Pappbecher. „Nein, nein, ich bin nachher noch mit Luisa verabredet, Kiras bester Freundin. Und es gibt Eierkuchen.“
    „Du hoffst, dass sie was weiß. Ich hoffe mit dir!“ Jonny hielt beide Daumen hoch, während Tim die Hand zum Gruß hob.
    Dann sah Jonny auf einmal in meine Richtung und nickte, so als wollte er sich auch von mir verabschieden. Erschrocken prüfte ich, ob ich bereits wieder sichtbar wurde. Manchmal vergaß ich vorübergehend, in welchem Zustand ich mich gerade befand. Und das barg immer eine gewisse Gefahr. Im Moment aber war von mir nichts zu sehen.
    Jonny wandte den Blick wieder ab und begann, Kartoffeln zu schälen. Tim hatte sich bereits einige Schritte entfernt und ich folgte ihm.
    „Gott behütet dich“, rief Jonny ihm hinterher, in diesem bestimmten, wissenden Ton. Wahrscheinlich war er einer dieser Typen, die Leute wie mich irgendwie wahrnehmen konnten. Solche Menschen gab es und sie waren mir immer ein wenig unheimlich.
    Es war jetzt höchste Zeit für mich, eine Pause einzulegen. Ich schwang mich hinauf, über die Baumwipfel des Mauerparks, und suchte mir ein ruhiges Plätzchen, um ungesehen

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