Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
Vom Netzwerk:
befand sich ein altes Eisenbett, noch vollständig mit Matratze und einem Überwurf aus altem Leinen.
    Vor dem Fenster bewegten sich die Äste der Bäume. Ein paar Schneeflocken wirbelten durch die Luft, und während ich ihnen zusah, riss der Himmel auf und ein großer, weißgoldener Mond kam hervor. Eine Weile stand ich versunken da und betrachtete das Schauspiel. Die Wolken zogen sich weiter auseinander, bis der Mond vollständig in den Wipfeln der Bäume zu hängen schien. Das Bett davor erweckte den Eindruck, es wäre bereit abzuheben und in den Himmel zu fliegen, sobald jemand das Fenster öffnete. Ich trat näher. Es war von feinen Spinnennetzen eingewebt, viele Jahrzehnte hatte es niemand mehr geöffnet. Der Überwurf auf dem Bett hingegen war staubfrei, als käme manchmal jemand hierher – vielleicht Grete.
    Ich setzte mich auf das Bett und schaute noch ein bisschen aus dem Fenster, erstaunt, in diesem baufälligen Gebäude so einen verwunschenen Ort vorzufinden.
     

Kapitel 4
     
    Zuerst glaubte ich, ein ganz leises Klingeln zu hören, was niemand mit normalen Ohren wahrnehmen könnte. Ich dachte an die Blüten im magischen Wald. Dann sah ich hinaus auf die Schneeflocken vor dem Fenster, doch die gaben natürlich keine Musik von sich, und dann erst erkannte ich, dass es Klänge von einem Klavier sein mussten. Ich lauschte angestrengt. Ein Klavier war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Nur würde ich es normalerweise viel lauter und deutlicher wahrnehmen, selbst wenn es in einem der Nebenhäuser stünde. Aber das war nicht mal das, was mich beschäftigte. Mich faszinierte das Stück. Zuerst versuchte ich, die Melodie einem Komponisten zuzuordnen – mit klassischer Musik kannte ich mich aus, ich liebte sie, besonders Chopin, Brahms und Grieg. Aber diesen Komponisten hatte ich noch nie zuvor gehört. Das Stück brach immer wieder ab – jedes Mal an der gleichen Stelle, als wenn jemand probte und dort aufgab oder die Noten nicht mehr vorhanden wären.
    Ich bewegte mich leise in die dunklen Tiefen des Dachbodens hinein, bog um die Ecke und befand mich jetzt über dem kleinen Seitenflügel, der kein eigenes Treppenhaus besaß. Ich lauschte an der Brandschutzwand zum Nachbarhaus und legte mein Ohr auf die Bodendielen. Die Melodie verstummte, fing von Neuem an, dann versuchte der Spieler sie zu variieren. Ich hörte sie, aber sie schien nicht aus dem Nebenhaus zu kommen und auch nicht von unten. Sie klang wie aus weiter Ferne. Dennoch war ich sicher, dass sie aus der Nähe kam. Ich schlich hinüber zu der Brandwand des Nachbarhauses zur Rechten. Hier hörte ich fast nichts mehr. Es kam also doch von der anderen Seite. Oder vom Hof? Ich spähte durch eine Gaube, die nach hinten hinausging. Doch das Nachbarhaus stand zu weit weg. Mit Konzentration würde ich ebenfalls hören, wenn dort jemand Klavier spielte, aber es würde viel leiser und dennoch klarer sein.
    Ich war verwirrt. Inzwischen klangen sehr vertraute Töne an mein Ohr. Der verborgene Pianist spielte jetzt den ersten Teil der Mondscheinsonate, das Adagio sostenuto. Konnte er oder sie den Mond vielleicht genauso gut sehen wie ich hier oben? Dann folgten kurz nacheinander, manchmal nur angespielt und ineinander übergehend, Chopins Nocturne op. 9, Tschaikowskys Thema aus dem Ballett Schwanensee, Smetanas Moldau, Griegs Morgenstimmung und wieder ein Teil aus der Mondscheinsonate. Das Spiel hatte etwas Gehetztes, Ängstliches, fast Flehendes. Da betätigte sich ein Talent, ein besonderes Talent, daran bestand kein Zweifel. Ich besuchte oft Leute, die Klavier spielten. Nicht die Berühmten, sondern die, die ich im Vorbeigehen hörte und deren Spiel mich berührte, nicht weil sie Profis waren, sondern weil sie es mit ihren persönlichen Emotionen aufluden.
    Ich lehnte an der Brandmauer aus alten Ziegeln und lauschte. Jetzt hörte ich wieder die besondere Melodie, die immer wieder abbrach. Vielleicht war es eine eigene Komposition? Ich musste ihren Schöpfer finden.
     
    Ich öffnete eins der Gaubenfenster einen Spaltbreit, wartete einige Sekunden, bis ich dem Staub auf den hundert Jahre alten Dielen ähnelte, und verflüchtigte mich hinaus in die Nacht. Die Musik kam weder aus den Nebenhäusern noch aus anliegenden oder gegenüberliegenden Häusern. Immer, wenn ich mich von dem alten Haus am Wetterplatz 8 entfernte, verlor sich auch das Klavierspiel. Auf dem Hinterhof stand nur eine Birke, die in seiner düsteren Enge traurig wirkte. Die Remise war eine

Weitere Kostenlose Bücher