Schattenmelodie
Kneipe. Es herrschte ziemliche Unordnung. Auf allen Tischen standen volle Aschenbecher und jede Menge Gläser herum. Einige Stühle waren umgekippt und der Boden vollständig mit Papierschlangen und Konfetti bedeckt. Ich legte meinen Mantel über einen Stuhl, da sprang Tom hinter dem Kühlschrank für Getränke hervor und klatschte tatendurstig in die Hände. Erschrocken fuhr ich herum.
„Morning, Neve!“, rief er fröhlich. Er sah irgendwie anders aus, als seien tausend Türen in seinem Gesicht aufgegangen. Mich befielen die schlimmsten Befürchtungen. Gefiel ihm etwa, was Charlie und er da gestern Nacht fabriziert hatten?
„Du bist gestern nicht mehr gekommen“, sagte ich und versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Dabei begann ich, ein paar bunte Papierschlangen aufzusammeln.
„Tut mir total leid. Aber es war auch nicht mehr nötig.“
„Warum?“
„Das Lied ist Mist.“
„Mist?“ Ich war erstaunt.
„Total schwülstiger Text. Ich war eigentlich schon auf dem Weg zu dir, da lief mir Charlie über den Weg. Oder besser, sie stand vor meiner Wohnungstür, ich hätte sie beinahe umgerannt.“
Na toll, prima Timing. Um meinen aufsteigenden Ärger zu beherrschen, hob ich geschäftig weitere Papierschlangen auf. Tom nahm mir die Schlangen aus der Hand. Dabei berührten sich unsere Hände.
„Neve, setz dich mal kurz hin. Ich muss dir etwas sagen.“
Oh je, das klang feierlich. Mein Herz stolperte und stolperte. Blödes Herz. Man konnte es in solchen Momenten einfach gar nicht gebrauchen.
Er legte die Papierschlangen auf einen Tisch, rückte mir einen Stuhl zurecht und zog sich selber einen heran.
„Also, ich habe Charlie meinen Flügel gezeigt … und ihr von meinen kläglichen Versuchen erzählt, etwas zu komponieren.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Und sie hat kein bisschen gelacht. Sie … ich glaube, sie war beeindruckt. Also, sie war ungefähr zwei Minuten lang still. Du weißt, was das bei ihr heißt.“ Er schmunzelte. „Aber dann nahm sie die Noten, unter die ich den Text meines Liedes geschrieben hatte, und begann zu singen. Versuchte verschiedene Stimmen und Tonlagen. Doch nichts wollte passen.“
Jetzt hätte er niedergeschlagen klingen müssen, aber den Eindruck machte er keineswegs.
„Das wolltest du mir sagen?“
„Nein, nein … Etwas anderes. Den richtigen Text für das Lied werde ich schon noch finden.“ Er senkte den Blick und fuhr sich in typischer Geste durch die Haare. „Ich denke, ich habe dir viel zu verdanken!“
„Mir?“
„Ja, dir.“ Tom beugte sich zu mir und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab, während er den Kopf in seine Hände stützte und mich ansah.
„Du bist es, die irgendeinen Knoten in mir gelöst hat.“
„Ich?“
„Der Traum mit dir im Märchenwald war verrückt, aber dadurch wusste ich endlich, wie ich weiterkomponieren sollte. Von da an habe ich mir immer vorgestellt, du wärst bei mir, und schon fanden die richtigen Noten wie von allein auf das Blatt.“
Ich starrte ihn an und suchte nach Worten. Aber nirgendwo fanden sich ein paar brauchbare in meinem Kopf. Toms dunkelblaue Augen glitzerten. Er wirkte so glücklich. Sein Blick ruhte intensiv auf mir. Ich fing an zu zittern.
„Ich glaube, du kannst in meine Seele schauen. So kommt es mir jedenfalls vor, wenn du mich mit deinen himmelblauen Augen ansiehst. Weißt du, ich würde dir auch so gern etwas Gutes tun.“
Tom rieb seine Hände und wandte den Blick wieder ab.
„Aber das tust du doch. Die Wohnung, der Job …“ Meine Antwort klang ein wenig atemlos.
„Ich muss dich was fragen.“
Mein Herz stolperte und raste und stolperte und raste. Was kam jetzt?
„Ich … oh Mann …“ Er rang die Hände und schaute zur Decke.
„Ich habe mich verliebt.“ Dann sah er mich wieder an. „Okay, jetzt ist es raus.“
„Was?“ Meine Stimme war nur ein Fiepen.
„Ja, stell dir vor, ich schroffer Griesgram.“
„Da… das bist du nicht.“ Ich fühlte mich benommen – vor Angst, vor Glück, vor Panik, was als Nächstes kam und ob ich Toms Worte aushalten würde.
„Und du, du sollst es zuerst wissen – weil …“
In meinen Ohren fing es an zu rauschen.
„ … du eine Frau mit feinen Antennen bist.“
Ich ahnte, dass gerade alles in die völlig falsche Richtung abbog. Ich griff nach den Papierschlangen und begann, sie in meiner Hand zu zermalmen.
„Was meinst du also: Hat denn so jemand wie ich bei so jemanden wie Charlie
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