Schattenmelodie
Charlie hörte …
„Warum solltest du ihr nicht davon erzählen?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht, du hast mich nicht ausgelacht, weil ich einen Flügel einmauere. Aber Charlie, vielleicht tut sie es. Vielleicht hält sie mich dann für verrückt.“
„Vielleicht“, sagte ich.
Tom senkte den Kopf. „Okay, du denkst also …“
„Nein, ich meine … natürlich solltest du sie fragen. Wer so gefühlvoll singt, also, der macht sich doch nicht über jemanden wie dich lustig. Kann ich mir nicht vorstellen. Zumal Charlie bestimmt nicht weniger verrückt ist als du, so meinte ich das.“
Tom seufzte. „Ach, Neve … Du sagst, was ich jetzt am liebsten hören wollte.“ Er schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln.
Wieder pikte mein Herz.
Plötzlich waren Geräusche von hohen Absatzschuhen unten im Hausflur zu hören. Tom verdrehte die Augen. „Das wird meine Mutter sein. Komm.“ Er zog mich aus der Wohnung, lehnte die Wohnungstür wieder an und lief die Treppen hoch. Ich zögerte.
„Komm“, flüsterte er. „Zuerst will ich aber dir das Lied zeigen. Du musst mir sagen, ob dir der Text gefällt oder ob du ihn einfach nur kitschig findest. Du musst mir auf jeden Fall die Wahrheit sagen. Meine Mutter bringt nur kalten Braten und Plätzchen. Sie geht gleich wieder.“
Ich folgte ihm. Tom schloss die Wohnungstür auf. Da hatte seine Mutter uns schon eingeholt. Sie war eine große, schlanke Frau mit einem teuren Pelzmantel, die in diesem düsteren und kaputten Treppenhaus völlig deplatziert wirkte.
„Tom, mein Schatz. Bist du gerade gekommen? Na, da habe ich ja Glück.“ Ihr Lippenstift leuchtete knallrot und ihre Stimme schraubte sich hoch und klang ein wenig affektiert.
„Hallo Gabriele“, sagte Tom und küsste sie auf die Wange.
„Ach, sag doch nicht immer Gabriele.“
Sie seufzte und nahm ihre große, schwarze Tasche von der Schulter. Es schepperte, als sie auf dem Fußabtreter aufsetzte.
„Komm doch erst mal rein“, forderte Tom sie auf.
„Nein, nein, ich will gar nicht lange stören. Wer ist denn dieses Mädchen. Willst du sie mir nicht vorstellen?“
Sie richtete ihre Augen auf mich und ich staunte, wie stahlblau sie waren.
„Das ist Neve.“
„Was für ein besonderer Name. Gefällt mir.“
Sie lächelte mich an und reichte mir ihre Hand, an der sie zwei goldene Ringe trug. Dann holte sie aus der Tasche ein längliches Gefäß aus Glas, das mit zwei Metallverschlüssen versehen war, und reichte es mir.
„Da ist der Braten drin. Fast ein Kilo.“
Als Nächstes beförderte sie eine weihnachtlich gemusterte Blechdose zutage, in die mindestens ein Kilo Kekse passte. „Und hier die Kekse. Habe alle deine Lieblingssorten gebacken.“
„Du?“ Tom nahm sie ihr ab.
„Na ja, mit Nanas Hilfe natürlich. Aber ich habe die Rezepte ausgesucht!“, schob sie stolz nach. „Nana ist unsere Haushälterin“, erklärte sie an mich gewandt.
„Und, sie ist also deine Freundin, ja?!“ Sie blickte wieder zu Tom und fuhr fort, als wenn ich nicht da wäre: „Sie soll den Braten gut wärmen und am besten Klöße dazu machen. Kartoffelklöße, möglichst handgemacht“ Sie drehte sich erneut zu mir. „Können Sie das?“
„Sie ist nicht meine Freundin. Und sie macht auch keine Kartoffelklöße, Gabriele“, antwortete Tom in einem etwas entnervten Ton. Ich schluckte. Der erste Satz fühlte sich vernichtend an. Er stimmte, aber so wie er ihn sagte, war er wie ein Peitschenhieb.
„Ich muss jetzt gehen. Ich …“, platzte es aus mir heraus. Keine Sekunde länger wollte ich weiter neben Tom und seiner Mutter stehen.
„Neve, warte, wir wollten doch noch …“, rief er mir verdattert hinterher.
„Später, ich hab ganz vergessen, dass …“ Ich machte eine wegwerfende Bewegung, als könnte ich das jetzt nicht so schnell erklären. „Bis nachher.“
Ich drehte mich noch mal zu Toms Mutter um. „Auf Wiedersehen.“ Aber sie beachtete mich gar nicht, sondern sammelte einen Fussel von Toms Pullover, der übersät war mit Fusseln, weil es ein Wollpullover war. Tom verscheuchte ihre Hand wie eine lästige Fliege und rief: „Okay, ich gebe dir ein Zeichen, wenn ich zurück bin aus der Kneipe. Ich mach heut nicht lange.“
Sie ist nicht meine Freundin. Der Satz schepperte durch meinen Kopf, während ich auf dem Dach des Hauses gegenüber saß und den Hinterhof unseres irgendwie traurig aussehenden Hauses beobachtete. Es war kalt und ich fror erbärmlich. Ich hatte nicht an meinen
Weitere Kostenlose Bücher