Schattenmenagerie
Kriminalinspektorin.«
»Klar, das habe ich von dir geerbt.
– Sag mal, der Mann nannte sich Herrscher der Seelen. Was ist das, eine Seele?«
»Tja, das ist nicht einfach zu beantworten.
Ich probier’s mal so: Eine Seele ist das innere Ich eines Menschen, das sind seine
Gefühle, seine Wünsche, seine Vorstellungen, das ist sein Charakter. – Warum der
Typ sich jedoch als Herrscher der Seelen aufwirft, kann ich bei bestem Willen nicht
nachvollziehen.«
»Stirbt denn die Seele zusammen
mit dem Menschen?«
»Weißt du, das ist sehr schwer zu
sagen. Viele meinen, die Seele lebe nach dem Tode weiter. Manche glauben sogar,
jeder Stern am Firmament sei die Seele eines Verstorbenen. Aber das ist physikalisch
betrachtet natürlich völliger Unsinn.«
»Aber es klingt
gut. Die Vorstellung gefällt mir. Ich werde heute Nacht mal Opa dort oben suchen
und mit ihm sprechen. – Er fehlt mir so, seitdem er vor zwei Jahren zu seiner –
wie sagte Mama immer? – zu seiner letzten Reise aufgebrochen ist. Heute weiß ich,
dass er tot ist. – Er hat mir übrigens auch immer meine Fragen beantwortet, – so
wie du jetzt.«
»Ja, sprich mit ihm. Er wird sich
bestimmt darüber freuen. – Jemand hat mal gesagt, die Seele sei ein Buch, in dem
der liebe Gott das Tagebuch eines Menschen führt.«
»Das verstehe ich nicht. Dann müsste
es doch nur gute Menschen geben. Warum gibt es aber auch böse Menschen? Haben die
keine Seele?«
»Weißt du, da gibt es verschiedene
Möglichkeiten, glaube ich.«
Kroll legte den Arm um das Mädchen
und führte es sanft an das Brückengeländer.
»Schau hier, der Bach, der das Schloss
umgibt. Er sieht in jedem Moment anders aus. Mal glitzert er, mal verdunkelt er
sich. Mal ruht er, mal fließt er. Mal trägt er den Sand ab, mal schwemmt er ihn
an. – Die Seele gleicht dem Wasser, sie wandelt sich stetig. Nie ist sie so wie
vorher.«
Den Gedanken hatte Kroll irgendwann
einmal beim Lesen eines Goethegedichts aufgeschnappt.
»Manche Menschen lassen ihre Seele
im Laufe der Zeit versteinern, – durch Hass, Neid oder Egoismus. Andere wiederum
haben ihre Seele dem Teufel verkauft, weil sie meinen, dadurch etwas erreichen zu
können, wozu sie sich allein nicht in der Lage fühlen. – Aber wenn der Teufel dann
das Tagebuch führt, so kannst du dir vorstellen, wie es um den Charakter des Menschen
bestellt ist.«
»Kann man denn die Seele anfassen,
kann man sie sehen, – wie ein Buch?«
»Man kann sie verletzen, so wie
man eine Seite aus einem Buch herausreißen kann. Aber man kann die Seele nicht körperlich
berühren. Man sieht sie auch nicht, nicht einmal mit einem Röntgenapparat. – Nein,
– aber ich finde, sie verrät sich über unsere Augen. Schau einem Menschen in die
Augen, dann siehst du seine Seele.«
»Dann hat der Schlossverwalter ja
wohl keine Seele, denn in seinen Augen sah ich nur ein kaltes Funkeln, keine Gefühle,
keine Regungen.«
»Vielleicht hast du recht, vielleicht
ist dieser Diabelli auch kein normaler Mensch. Für mich ist er ein Verdächtiger.
Ich kann mir vorstellen, dass der zu allem fähig ist, auch zum Mord.«
Micha lachte. »Du bist ein unverbesserlicher
Kriminalist. Geh du zu deinen Kollegen, ich bin lieber unter Kindern.«
Und schon war sie mit dem Ball in
der Hand hinter den Büschen verschwunden. Kroll machte sich auf den Weg zu Kommissar
Dorndorf.
Kapitel 5: Im Schlosspark
Micha drückte sich an dem hässlichen Parkplatz vorbei, der nördlich
zwischen dem Schloss und dem See lag. Heute, einem Werktag in der Vorsaison, war
hier nicht viel los. Ein paar Möwen stolzierten vornehm über den Schotterboden und
hatten vor dem Kind überhaupt keine Scheu. Vergebens hofften sie auf Brotreste,
wie sie ihnen die Touristen in der Hauptsaison bereitwillig zuwarfen. Leider hatte
das Mädchen nichts als einen Ball in der Hand.
Schnell gelangte
es an die Spitze der Schlosshalbinsel, wo der bilderbuchschöne Wassertempel direkt
am Ufer stand. Normalerweise hat man von hier einen herrlichen Ausblick auf die
nah gegenüberliegende Fasaneninsel und auf den See fast in seiner gesamten Länge.
Doch weil in dem Tempel ein Liebespaar Zuflucht gefunden hatte, wollte Micha nicht
stören und bog Richtung Süden in eine prachtvolle Allee ab.
Die freundliche
Aprilsonne meinte es gut mit den Menschen. Ein paar Spaziergänger flanierten mit
sich und dem Wetter zufrieden durch die über dreihundert Meter lange Lindenallee,
die im Lichte der Sonne hellgrün leuchtete. Die Rentner
Weitere Kostenlose Bücher