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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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mir. Aber ihr seid so ganz anders als die Kinder, mit denen ich sonst so
spiele. – Hier, der Ball. Den sollst du haben. Ich bin sicher, du kannst damit besser
umgehen als so mancher Junge.«
    Sie wollte ihr den Arm um die Schulter
legen.
    »Und ob!«, rief Viviana, schnellte
hoch und kickte den Ball direkt vor die Füße eines Jungen, der etwas abseits stand.
Und schon war die ganze Meute auf den Beinen und spielte Fußball, egal ob man Waise,
Behinderter, Junge, Mädchen, Großstädter oder Provinzler war.
    Ein schriller Pfiff unterbrach das
Treiben. Er kam oben von einem der Beleuchtungstürme. Dort hockte ein Junge, ruderte
mit den Armen und zeigte auf den Eutiner See.
    »Ruhe, Leute!«, befahl Antonio.
Er schien der Anführer des 1. FC Eutins zu sein. »Noël hat was entdeckt. Alle hoch
auf den obersten Rang!«
    Im Laufen erklärte er Micha: »Noël
hat von uns allen die schärfsten Augen. Deswegen muss er immer Wache stehen.«
    Oben angekommen, drängelten sich
alle um den besten Aussichtsplatz auf den See, während Antonio auf den Turm kletterte.
Kurz darauf kamen die beiden Jungen wieder runter.
    »Also, folgende
Lage: Noël hat gesehen, wie der Pächter der Fasaneninsel mit einem Motorboot zum
Wassertempel gefahren ist. Dort muss der verdammte Verwalter, dieser Diabelli, auf
ihn gewartet haben. Und dann haben sie irgendwelche Umschläge ausgetauscht. – Die
beiden scheinen unter einer Decke zu stecken. Und ihr kennt sie ja: So wie die sich
uns gegenüber immer verhalten haben, scheinen sie nichts Gutes im Schilde zu führen.
– Kriegsrat!«
    Das war das Stichwort für ein paar
der Älteren, sich zurückzuziehen. Die anderen setzten ihr Fußballspiel auf der Wiese
fort. Noël fasste Viviana und Micha am Arm und zog sie beiseite.
    »Ich hab jetzt keinen Bock auf Ballspielen.
Kommt, lasst uns in die Konzertscheune gehen. Viviana, du hast versprochen, mir
etwas auf dem neuen Flügel vorzuspielen.«
    Sie machten sich auf den Weg. Micha
hakte sich bei Viviana unter. Ihr blieb nicht verborgen, dass Noël das blinde Mädchen
verliebt anschaute und sich mehr als nur kameradschaftlich um sie kümmerte.
    »Du spielst
Klavier? Ich meine, wo – wo du doch blind bist. Wie kannst du da die Noten lesen
oder die Tasten sehen?«
    Viviana lacht
kurz auf. »Man sieht, dass du vom Klavierspielen keine Ahnung hast. – Also, das
ist so. Ein richtiger Klavierspieler braucht sowieso nicht auf die Tasten schauen.
Die spürt man zwischen den Fingern. Das lernt schon jeder Anfänger. Das mit den
Noten ist natürlich ein Problem. Früher hatte ich nach der Brailleschrift gelernt.
Das ist so eine Art von Blindenschrift auch für den Musiker. Sie besteht, wie bei
der normalen Blindenschrift für Texte, aus hervorstehenden Punkten, die man mit
den Fingerspitzen abtasten kann. Sie sind zu einem Symbol zusammengefasst, dem Braillezeichen.
Du kannst dir das wie die Sechs auf einem Spielwürfel vorstellen. Aufgrund der Anordnung
der Punkte weiß ich, um welchen Ton es sich handelt und wie er zu spielen ist. So
wird beispielsweise die Tondauer durch eine bestimmte Anordnung der unteren zwei
Punkte der Sechspunkteform festgelegt.«
    »Aber wenn du die Finger zum Abtasten
der Schrift brauchst, wie kannst du dann auf den Tasten spielen?«
    »Gar nicht.
Anders als ein sehender Pianist, der vom Blatt spielen kann, muss ich zuerst alle
Zeichen abtasten und dann die Anordnung auswendig lernen. Erst dann kann ich das
Ganze auf den Tasten realisieren. Das hat nebenbei den Vorteil, dass ich die Musik
genau im Kopf habe, sodass mich ein Blick auf die Noten erst gar nicht ablenken
kann.«
    »Wow, das wäre mir zu anstrengend.
Ich meine, du spielst doch nicht nur Hänschenklein.«
    »Natürlich nicht. Ich habe mein
Programm genauso wie jeder andere Pianist auch, Mozart­stücke, Beethovensonaten,
Chopinetüden und so weiter. Vorhin hatte ich bei der Trauerfeier für Herrn Stolberg
zum Beispiel ein Stück von Carl Maria von Weber auf der Orgel gespielt.«
    Micha musste ihr frisch erworbenes
Wissen zeigen: »Das ist doch der, der den Freischütz komponiert hat?«
    »Du kennst dich ja gut aus. Habt
ihr das in der Schule gelernt?«
    »Na ja, so ähnlich«, druckste Micha
herum. Sie konnte ja schlecht verraten, dass sie heute die Schule schwänzte und
ihre Kenntnisse per Handy von ihrer Klassenkameradin gelernt hatte.
    Jetzt schaltete sich Noël in das
Gespräch ein. Er hatte am Wegrand eine Schlüsselblume gepflückt.
    »Wartet mal.« Er steckte sie

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