Schattennaechte
Sie dachte – wie schon so viele Male zuvor –, dass sie vielleicht daran sterben würde.
In ihrer Verzweiflung warf sie das Kissen auf den Boden und öffnete die Schublade ihres Nachttischs, in der ein Taschenbuch lag, das sie seit zwei Jahren zu lesen vorgab. Sie nahm es heraus und ging damit ins Bad, wo sie ihre Schlafanzughose herunterzog und sich auf den Badewannenrand setzte.
Hässliche rote Narben zogen sich in gleich langen, horizontalen Linien über die glatte, weiche Haut ihres Bauchs. Jede Narbe sah genauso aus wie die darüber und die darunter. Manche davon waren alt, andere frischer, manche waren bereits verheilt gewesen und wieder aufgerissen worden. Sie hatte vor langer Zeit aufgehört, sie zu zählen.
Zwischen den Seiten des Buches war eine Rasierklinge versteckt. Leah holte sie hervor und hielt sie vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger fest. Sie betrachtete sie, und der Gedanke an die Erleichterung, die sie ihr verschaffen würde, ließ sie sofort ruhiger werden. Ihr Atem ging gleichmäßiger, als sie sah, wie sich das Licht in dem Stahl fing. Ihr Herz schlug langsamer. Sie presste die Klinge an ihre Haut und zog die nächste Linie.
Der körperliche Schmerz war scharf und stechend. Der Anblick des hellroten Bluts, das aus der Wunde quoll, hatte etwas Hypnotisierendes. Wie ein blutroter Schrei schien der emotionale Schmerz aus ihr herauszubrechen. Der furchtbare Druck in ihrer Brust ließ so rasch nach, als wäre ein Luftballon geplatzt.
Die Erleichterung war unbeschreiblich. Leah fühlte sich schwach und benommen und keuchte, als hätte sie soeben einen Hundertmeterlauf hinter sich gebracht.
Wie immer war das Gefühl jedoch nur von kurzer Dauer. Auf die vertraute Euphorie folgten Scham und Abscheu.
Was stimmte bloß nicht mit ihr, dass sie sich selbst so etwas Furchtbares, Widerliches antat? Jeder, der es wüsste, würde sie für verrückt halten. Daran, wie enttäuscht ihre Mutter wäre, wagte Leah gar nicht zu denken.
Doch auch wenn sie sich noch so sehr schämte, wusste sie, dass sie es wieder tun würde … und wieder. Weil die gähnende Leere und die Selbstverachtung, die sie danach empfand, nichts waren im Vergleich zu dem, was sie dazu trieb, es zu tun. Ein Teufelskreis.
Leah säuberte die Wunde und klebte ein Pflaster darüber, dann reinigte sie die Rasierklinge und versteckte sie wieder zwischen den Seiten des Buchs. Schließlich kroch sie in ihr Bett und rollte sich zusammen. Sie umklammerte ihr Kissen, als wäre es ein Teddy, und versuchte einzuschlafen.
9
Roland Ballencoa arbeitete gern nachts. Die Nacht hatte etwas Intimes. Die Welt war nicht so bevölkert. Je weniger denkende Wesen die Energiequellen des Lebens anzapften, desto mehr blieb für ihn übrig. Nachts fühlte er sich stärker, mächtiger.
Nachts war die ganze Welt seine Dunkelkammer. Am Abend entwickelte er die Fotos, die er tagsüber gemacht hatte. Dann war es Zeit aufzubrechen, und seine Augen wurden zu seiner Kamera.
Es war kühl. Er war froh, dass er das dunkle Kapuzensweatshirt mitgenommen hatte. Er stieg in seinen Wagen und fuhr in ein Viertel, in dem er ein paar Stunden zuvor schon einmal gewesen war. Trotz der späten Stunde brannte in einigen Häusern in der näheren Umgebung des Colleges noch Licht, aber es war niemand mehr unterwegs. Roland parkte in einer Seitenstraße, stieg aus und begann seinen Streifzug.
Das Auskundschaften machte ihm Spaß. Es machte ihm Spaß, die Häuser zu studieren. In diesem Teil der Stadt fand man eine Mischung aus viktorianischer Architektur, spanischem Kolonialstil und dem Craftsman-Stil der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Dazwischen stach das eine oder andere einstöckige Fünfzigerjahre-Haus hervor.
In diesem Viertel gab es viele alte Bäume und Hecken, man konnte hier herumlaufen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er war praktisch unsichtbar, was ihm in seiner Beobachterrolle sehr entgegenkam.
Roland war schon vor zwei Tagen hier gewesen, er hatte einfach irgendwo geparkt und das Kommen und Gehen der Leute, die hier wohnten, beobachtet: überwiegend Collegestudenten und -studentinnen, viele davon sehr hübsch.
Am McAster College war in den Sommerferien beinahe genauso viel los wie während des Semesters. Es genoss einen ausgezeichneten Ruf für seinen Fachbereich Musik und richtete jedes Jahr ein Musikfestival aus, das Besucher aus der ganzen Welt anzog. Viele bekannte Musiker kamen bereits vor Beginn des Festivals nach Oak Knoll und blieben anschließend
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