Schattennetz
einrichten kann, schaut er sich einmal die Woche das Läuten aus der Nähe an.«
Nachdem es keine weiteren Fragen mehr gab, entlastete die Dekanin ihren Drehstuhl und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Damit sind wir uns einig, dass die Vorgehensweise heut Nacht richtig war«, resümierte sie. »Herr Kustermann und ich wollten dies nicht allein entscheiden. Auch wenn die Angelegenheit klar war.«
»Weiß man schon, wann die Beerdigung sein wird?«, wollte der ältere Herr wissen.
Der Stadtpfarrer zuckte mit den Schultern. »Vermutlich am Dienstag. Aber das ist Sache der Stadtverwaltung. Ich geh mal davon aus, dass Leichtle dies mit Frau Simbach regeln wird.«
»Ich will jetzt nicht pietätlos sein«, meinte die Dekanin und erhob sich. »Aber vielleicht birgt dieses traurige Geschehen auch die Chance, dass sich manches wieder beruhigt.«
»Oder es geht erst richtig los«, sagte Faller, ohne zu überlegen. Die Theologin wirkte verunsichert, entschied sich dann aber, nichts darauf zu erwidern. Sie verstand es, im entscheidenden Moment zu schweigen und damit ihr Gegenüber zu verunsichern.
Faller war insgeheim froh, dass niemand wissen wollte, was sich hinter seiner Bemerkung verbarg. Denn schließlich hätte er selbst auch keine plausible Antwort gehabt.
Die halbe Nacht noch hatte Sabrina Simbach mit ihrer Tochter über den Tod Alexanders gesprochen. Sie beide spürten mehr Betroffenheit als Trauer. Silke, ein überaus hübsches Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren wirkte für ihre 16 Jahre ziemlich selbstbewusst. »Weißt du, Mutti«, sagte sie, während sie auf einen der Barhocker an der Küchentheke kletterte und ihre langen Beine übereinander schlug, »wir sollten jetzt in die Zukunft blicken. Er hat sich weder um dich noch um mich gekümmert.« Sie sah in das blasse Gesicht ihrer Mutter.
Sabrina schwieg. Gestern früh noch hatte sie sich gewünscht, es würde Alexander nicht mehr geben. Doch jetzt, da ihr das Schicksal diesen Zustand beschert hatte, fühlte sie eine innere Leere. Sie hatte kein Auge zugetan und sich die Zukunft in allen möglichen Varianten ausgemalt. Alles war mit einem Schlag anders.
Silke hüpfte von ihrem Hocker und kniete sich vor den Stuhl ihrer Mutter. »Ich versprech dir, ich werd dir helfen. Und Sergije tut das ganz sicher auch.«
Sergije, ja, dachte Sabrina. Ohne ihn würde jetzt überhaupt nichts mehr funktionieren. Und doch wollte sie nicht auf ihn angewiesen sein. Sie hatte ganz andere Pläne. Für einen Moment überlegte sie, ob sie Silke damit konfrontieren sollte. Dann aber entschied sie, es nicht zu tun. Noch nicht.
»Danke. Wir werden das schaffen. Schlimmer kanns nicht mehr kommen.« Auch für die Tochter ging ein Martyrium zu Ende. Ihre Mutter musste unweigerlich an den Morgen des 1. Mai denken, als ihre Tochter später als vereinbart von einer ›Party-Location‹ heimgekommen war. Alexander hatte sie an der Tür abgepasst und ihr eine so kräftige Ohrfeige verpasst, dass sie durch den Flur getaumelt und gegen die Wohnzimmertür gestoßen war.
Aber auch sie selbst hatte oft genug ähnliche Attacken erlitten und sich dann aus Scham stundenlang nicht aus dem Haus getraut, wenn sich auf einer ihrer Wangen ein knallroter Handabdruck abzeichnete.
»Woran denkst du jetzt?«, fragte das Mädchen.
»An nichts«, sagte Sabrina tonlos. »Ich hoffe nur, dass es jetzt kein Geschwätz gibt.«
»Dieses alte Theater. Was geht das uns denn an?«
Sabrina holte tief Luft. »Ich hoffe, jetzt nicht mehr. Was du nicht wissen konntest … Er war krankhaft eifersüchtig. Einerseits hat er uns beide geschlagen …« – es war ihr sichtlich peinlich, dies anzusprechen – »ja, und andererseits war er eifersüchtig. Panisch eifersüchtig.«
»Eifersüchtig? Auf wen denn?«
Sabrina presste die Lippen zusammen. Sie wollte es nicht sagen. Nein. Nicht jetzt. Nicht heute. Silke würde es noch früh genug erfahren.
Am Abend des zweiten Hocktags waren die Fußgängerzone und die angrenzenden Gassen dicht gefüllt. Bei idealem Wetter zog es an diesem Samstagabend tausende Besucher in die Altstadt. Unter den Einheimischen sprach sich wie ein Lauffeuer herum, was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte. Allerdings blieb es meist bei wilden Gerüchten, zumal niemand genau zu sagen vermochte, was im Turm der Stadtkirche tatsächlich geschehen war.
Sabrina Simbach und ihre Tochter hatten beschlossen, an ihrem Getränkestand zu arbeiten, sich aber möglichst
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