Schattennetz
›Evangelium‹. Denn, so die kritiklose Einstellung vieler Zuschauer, ›es ist ja sogar im Fernsehen gekommen‹.
Sander, der den Journalismus vor über 35 Jahren von der Pike auf gelernt hatte, beginnend als freier Mitarbeiter, der über Vereinsjubiläen und Kaninchenausstellungen berichten musste, tat sich zunehmend mit den Veränderungen in der Medienlandschaft schwer. Hatte man einst auf penibel genaue Recherche Wert gelegt, dafür Stunden, ja manchmal sogar Tage aufgewandt, so blieb dafür heute kaum noch Zeit – insbesondere nicht bei einer Tageszeitung. Viel zu sehr war man inzwischen mit technischen Arbeiten eingedeckt, war an den Computer gefesselt und erledigte Aufgaben, für die es früher ganze Stäbe von Fachleuten gab: Setzer, Metteure, Chemigrafen. Auch die Abgrenzung zwischen Journalismus und Werbung, zu Sanders Anfangszeiten noch eine ›heilige Kuh‹, war längst verschwommen. Zwar gab es durchaus noch Richtlinien, aber wenn er manches Printmedium oder auch manchen Fernsehsender sah, hatte er Zweifel, wo der unabhängige Journalismus aufhörte und die unterschwellige Werbebotschaft anfing. Mittlerweile aber, das hatte er oft schon mit Kollegen diskutiert und bedauert, schienen weite Bevölkerungsteile diese bedenkliche Verschmelzung schon gar nicht mehr zu bemerken. Das in der PISA-Studie beklagte gesunkene Bildungsniveau hatte wohl auch dazu bereits beigetragen.
Gedanken dieser Art beschlichen den Mittfünfziger, als er an diesem Dienstagnachmittag zu Fuß in den Lehrsaal der Feuerwehr ging, wohin die Polizeidirektion zu einer Pressekonferenz geladen hatte. Sander war nicht nur gespannt, wie viele Journalistenkollegen von auswärts anreisen würden, sondern auch, wie sich die neue Chefin der Kriminalpolizei präsentieren würde. Fast überkam ihn ein bisschen Wehmut, dass ihr Vorgänger Helmut Bruhn nicht mehr da war, der mit kernigen Worten und Türe schlagend zum Ausdruck brachte, wer das Sagen hatte. Vor einigen Monaten war der Mann, dessen cholerische Anfälle man in Polizeikreisen landesweit gefürchtet hatte, in den Ruhestand getreten. Zwar hatte Sander mit ihm oft über die Bedeutung der Medien gestritten, doch letztlich war Bruhn einer gewesen, unter dessen harter Schale sich ein weicher Kern verbarg.
Maggy, wie sie die Neue bei der Kripo nannten, hatte an der Oberkante der U-förmig angeordneten Tische zwischen dem Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Wolfgang Ziegler und dem neuen Chef der Polizeidirektion, Hermann Kauderer, Platz genommen. Neben ihm saß Pressesprecher Uli Stock, der kritisch in die Runde der etwa 20 Journalisten blickte, zwischen denen auf zwei Stativen Fernsehkameras geschraubt waren. Eigentlich hätte auch Häberle kommen sollen, doch hatte er sich wieder einmal erfolgreich gedrückt. Es müssten dringend einige Vernehmungen vorgenommen werden, hatte er seiner Chefin Manuela Maggy Maller am Telefon gesagt und charmant hinzugefügt, dass sich eine hübsche Frau vor den Kameras ohnehin besser mache als ein alter Knabe wie er.
Sander saß zwischen der Kollegin und dem Kollegen der beiden Stuttgarter Tageszeitungen, ihm gegenüber eine junge Frau eines privaten Radiosenders, die sich verzweifelt mit ihrem digitalen Aufnahmegerät abmühte.
»Meine Damen und Herren«, begann Direktionsleiter Kauderer, selbst Kriminaldirektor, während die Gespräche verstummten. »Wir begrüßen Sie hier in Geislingen und danken für Ihr Kommen.« Er stellte die Personen neben sich vor und erwähnte, dass es sowohl für ihn als auch für Frau Maller die erste Pressekonferenz in ihren neuen Positionen sei und dass auch sie das Ausmaß dieses Verbrechens schockiert habe. »Es ist auch in meiner Laufbahn noch nicht oft vorgekommen, dass ich es gleich mit drei Opfern zu tun hatte. Und was uns alle noch mehr betroffen macht, ist der Ort des schrecklichen Geschehens: eine Kirche.«
Nach der unvermeidlichen Bitte, sachlich zu berichten und die Fragen der Polizei zu veröffentlichen, reichte er das Wort an Manuela Maller weiter, die mit sympathischem Lächeln die Medienvertreter begrüßte und dann selbstbewusst erläuterte, was sich seit Freitag in dieser Kleinstadt zugetragen hatte. Sie kam schnell auf die Manipulationen an der Stromzufuhr zu sprechen, ohne jedoch darüber zu spekulieren, ob der Anschlag tatsächlich den beiden Männern gegolten hatte oder ob sie zufällige Opfer geworden waren. Mesnerin Gunzenhauser, so ließ die Kripochefin durchblicken, könne möglicherweise den Täter
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