Schattennetz
Freitagnacht einen Schlüssel gegeben?«
»Ja, selbstverständlich. Sie wollte nicht selbst aufschließen und deshalb hab ichs getan.«
»Und was ist mit dem Schlüssel dann passiert?«
Faller verengte die Augenbrauen. »Ich hab ihn. Natürlich.« Er sah seine Gegenüber verständnislos an. »Ich hab vergessen, ihn zurückzugeben. Soll ich ihn holen?«
»Nein, nein«, wehrte der Chefermittler ab. »Ich wollte das nur geklärt wissen, weil Frau Gunzenhauser dann am Samstag den Ersatzschlüssel beim Stadtpfarrer geholt hat.«
»Ach, da hätt die liebe Frau aber auch mich anrufen können.«
»Hätte sie tun können, ja«, stimmte ihm Häberle zu. »Und noch eine Frage.«
»Die wäre?«
»Es sieht danach aus, als sei Simbachs Handy verschwunden. Jedenfalls ist es bisher nirgendwo aufgetaucht.«
»So?« Fallers Haltung verriet Spannung. Er stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und kam mit dem Oberkörper nach vorne.
»Wir dachten, vielleicht ist es in der Freitagnacht im Turm aufgetaucht und dann verloren gegangen?«
»Obs verloren gegangen ist, weiß ich nicht. Der Leichenbestatter hats Simbach aus der Hose oder aus dem Hemd genommen und mir gegeben.«
»Ach. Und dann?«
»Dann hab ichs auf einen Fenstersims gelegt«, erklärte Faller. »Da, wo diese Schallluken sind.«
»Und dort liegen lassen?«, hakte der Chefermittler nach.
»Ja.« Häberle schwieg.
Es war schon kurz vor 22 Uhr, als die beiden Kriminalisten wieder in den Lehrsaal des Polizeireviers zurückkehrten. Die Kollegen der Sonderkommission, so berichtete der permanent ungekämmte Herbert Fludium, hatten sich inzwischen mithilfe einiger informatorischer Vernehmungen ein Bild davon verschafft, wie und von wem die beiden Männer im Kirchturm aufgefunden worden waren. Außerdem hatte man in den vergangenen Stunden noch mal die gesamte Kirche durchsucht, was sich als äußerst aufwendig erwies. Schlösser wurden sorgfältig geprüft, eine Vielzahl von Spuren gesichert und auch Anwohner und Beschäftigte der angrenzenden Häuser und Geschäfte befragt, ob ihnen in den letzten Tagen im Bereich des Gotteshauses etwas Verdächtiges aufgefallen sei. Zu diesem Personenkreis zählten die Erzieherinnen des benachbarten Kindergartens ebenso wie die Angestellten der ›Geislinger Zeitung‹, die von ihrer als Raucherzimmer missbrauchten Kleinküche einen hervorragenden Blick auf die Kirche hatten. Niemand jedoch konnte den Kriminalisten brauchbare Hinweise geben.
Während Häberle kurz von den Vernehmungen der vergangenen Stunden berichtete, machte sich Linkohr bereits daran, seine dabei gemachten Notizen in den Computer zu hämmern. Er beließ es bei stichwortartigen Aufzählungen, ohne die vielen Tippfehler zu berichtigen. Wichtig war es, dass alle Details, vor allem aber auch seine persönlichen Eindrücke und Beobachtungen, allen Mitgliedern der Sonderkommission zugänglich gemacht wurden.
»Gibts eigentlich inzwischen eine Erklärung, weshalb der Medizinmann bei der Todesursache von Simbach so daneben gelegen ist?«, fragte Häberle, worauf sich aus der Runde der umherstehenden Kollegen ein junger Mann zu Wort meldete: »Ich hab mich ausführlich mit Dr. Kräuter unterhalten.« Ohne aufgefordert zu werden, berichtete der Kriminalist von seinem Telefongespräch mit dem Ulmer Gerichtsmediziner, der ihm offenbar eine wissenschaftliche Lesung über die Feststellung eines tödlichen Stromschlags gehalten hatte. »Es soll tatsächlich Fälle geben, bei denen so gut wie keine äußerlichen Merkmale erkennbar sind«, erklärte der junge Mann, während er zu einem der Schreibtische ging, um sich seine Aufzeichnungen zu holen. »Manchmal handle es sich nur um stecknadelkopfgroße bräunliche Punkte, die sich auf der Haut gebildet hätten – sogenannte Strommarken.« Die Kollegen hörten aufmerksam zu. »In seltenen Fällen seien solche Strommarken zunächst gar nicht oder kaum zu erkennen. Sie zeigen sich dann erst einen Tag später.«
Ein Kollege, der sich auf einen Schreibtisch gesetzt hatte, traf dazwischenrufend die Feststellung: »Das heißt also, wenn der Doktor nicht genau hinschaut, schöpft er keinen Verdacht.«
»So ist das zu interpretieren. Häufig führt der Stromfluss zu Muskelverkrampfungen, was dann – so meint Kräuter – mit der Leichenstarre nicht übereinstimmt. Sie würde also zu früh eintreten.«
Häberle nickte. »Ich möcht lieber nicht wissen, wie viele Mordopfer schon jährlich still und heimlich beerdigt wurden.«
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