Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Almisan stürzte zum Fenster. » Das Seil! Ich bin ein Narr!«
Shahila fühlte den Zorn in sich aufsteigen, jene schnelle Wut, die sie mit ihren Geschwistern gemein hatte. Sie atmete tief durch. Sie war sich sicher gewesen, ihn wieder auf ihre Seite gezogen zu haben. Hatte sie sich so getäuscht? » Siehst du ihn? Kannst du ihn einholen?«
» Dort unten, in der Gasse. Aber wartet, Herrin, er begibt sich geradewegs in neue Schwierigkeiten.«
Sahif war zu dem Entschluss gekommen, weder seinem alten Selbst noch seiner Halbschwester und schon gar nicht seinem Schattenbruder Almisan zu vertrauen. Er hatte das Seil genommen und sich aus dem Staub gemacht. Einen Plan hatte er eigentlich nicht, nur die ungefähre Idee, sich an Wulger Dorn, den Glasmeister zu wenden, denn das war so ziemlich der einzige Mensch, den er in dieser Stadt kannte. Er war den ganzen Tag seiner Vergangenheit nachgejagt, hatte versucht herauszufinden, wer er war. Jetzt wusste er es, und er rannte davon, vor sich selbst und vor den undurchsichtigen Plänen seiner Halbschwester. Die ganze Zeit hatte er unter unglaublicher Anspannung gestanden, weil er immer das Gefühl gehabt hatte, etwas tun zu müssen, von dem er nicht wusste, was es war. Er hatte das Gewicht der Verpflichtungen gespürt, auch wenn er keine Ahnung gehabt hatte, was das für Verpflichtungen waren. Jetzt wusste er es, und auch davor rannte er davon. War Aina, seine Geliebte, seine Rettung? Sie hatte sich in einen Schatten verliebt – wusste sie, was das bedeutete, und würde sie ihn auch lieben, wenn er nun ein anderer war? Das würde er herausfinden, aber zuerst musste er Ela Grams suchen. Er hatte keine Ahnung, wo sie sein mochte, aber er ahnte, dass sie in Gefahr war, und das war seine Schuld. Und jetzt musste er diese Schuld begleichen.
Er rannte die Straße entlang und um die nächste Ecke. Ein Trupp Soldaten kam ihm in langsamem Marsch entgegen. Sie trugen eine leblose Gestalt auf einer Art Bahre. Sahif hielt sich nicht damit auf herauszufinden, wer das sein mochte. Er drehte um und rannte zurück.
Hinter ihm brüllte jemand » Halt! Stehenbleiben!«, aber natürlich dachte er nicht daran, diesem Befehl zu gehorchen. Er bog in die nächste schmale Gasse ein, wieder um eine Ecke, um noch eine und rannte weiter. Vermutlich verfolgte man ihn, vermutlich würden all die Leute, die ihn zuvor in der Neustadt gejagt hatten, nun die Altstadt nach ihm durchkämmen. Er biss die Zähne zusammen und rannte. Ihm wurde klar, dass er unter diesen Umständen nicht zu Wulger Dorn laufen konnte, ja, nicht laufen durfte, weil er den Glasbläser sonst in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde. Doch wo sollte er hin? Einige schmale Querstraßen weiter wusste er es: Im Grunde genommen konnte er nur wieder in den Untergrund gehen. Der Gedanke gefiel ihm nicht besonders, denn anders als beim letzten Mal hatte er keinen Hünen an seiner Seite, der ihn heraushauen würde. Nur der frühere Sahif war mit ihm, aber der war ein sehr unzuverlässiger Verbündeter. Sahif rannte weiter durch die Gassen. Gar nicht weit entfernt wurden Befehle durch die Nacht gebrüllt, und in einigen Häusern flammten Lichter auf. Das fehlte ihm noch, dass sich auch die Bürgerwehr an der Jagd auf ihn beteiligte.
Der Lärm des Jahrmarkts war inzwischen verebbt, und manchmal, wenn er breitere Gassen überquerte, sah er kleine Gruppen von Menschen, die nach Hause schlenderten. Viele waren angetrunken, und die meisten waren zu sehr mit sich selbst und ihren Erlebnissen auf dem Jahrmarkt beschäftigt, um ihn zu beachten, wenn er zwischen ihnen hindurchhuschte. Sie blieben bestenfalls stehen und stierten den Soldaten nach, die durch die Straßen hasteten. Sahif rannte und suchte den Eingang, den er mit Habin benutzt hatte. Bei Nacht sahen diese Gassen für ihn alle gleich aus. Wenn er stehenblieb, hörte er das Getrampel der Soldaten, immer viel zu nah für seinen Geschmack.
Er kletterte auf das nächste Dach, um sich auszuruhen und sich einen Überblick zu verschaffen. Wenigstens das gelang ihm inzwischen ganz gut ohne die Hilfe seines früheren Selbst. Er kauerte sich in den Schatten eines Kamins, sah sich um und lauschte. Noch sah er keine Schützen auf den Dächern. Unter ihm trottete ein Trupp Soldaten durch die Gasse, aber die hatten entweder keine Lust, auf die Dächer zu steigen, oder sie kamen einfach nicht auf die Idee. Dann fiel Sahif ein, dass nun möglicherweise nicht mehr nur die Wachen, Naroks Gesetzlose und
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