Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
in den Spalt, aus dem er sie genommen hatte, griff nach dem Branntweinkrug, den er dort versteckt hatte, setzte sich an den Stolleneingang, ließ sich die Herbstsonne ins Gesicht scheinen, trank und wartete.
Der Namenlose, der von dem Mädchen in der Köhlerhütte hartnäckig Anuq genannt wurde, fühlte sich unbehaglich. Seine Kleider waren immer noch nicht ganz getrocknet, aber sie waren besser als dieser lächerliche Vorhang.
» Hast du nicht etwas zu tun, am See vielleicht?«, fragte das Mädchen, aber die Frage war nicht an Anuq gerichtet.
» Vater sagte, ich soll dich nicht alleine lassen mit dem da«, erwiderte ihr Bruder Asgo.
» Er heißt Anuq.«
» Das hast du dir doch nur ausgedacht. Er weiß doch selbst nicht, wie er heißt.«
Das Mädchen warf ihrem Bruder einen finsteren Blick zu.
Dem jüngeren, Stig, war wieder die Aufgabe zugefallen, die Meiler zu kontrollieren, und er war maulend verschwunden. Asgo schien den Auftrag, die Ehre seiner Schwester zu schützen, sehr ernst zu nehmen, etwas, das der Namenlose aus Gründen, die ihm nicht ganz klar waren, sogar guthieß. Sie schien damit weit weniger glücklich zu sein.
Er saß mit verschränkten Armen auf seinem Schemel und sah ihr zu, wie sie die letzten Tonscherben, die nach dem Besuch der Soldaten zurückgeblieben waren, zusammenfegte. » Wie bist du auf diesen Namen gekommen?«, fragte er.
» Wie? Ach, letztes Jahr, auf dem Jahrmarkt, da war ein Vogelhändler. Er hatte auch einen Schwarzen Sperber von den südlichen Inseln mitgebracht. Den verkaufte er allerdings nicht, aber er hatte ihm Kunststücke beigebracht, die der Sperber zur Unterhaltung des Publikums darbot.« Sie schien an seinem Gesicht ablesen zu können, dass es ihm nicht gefiel, mit einem dressierten Vogel verglichen zu werden, und fügte schnell hinzu: » Und dieser Sperber, er hieß Anuq und hatte ganz glattes schwarzes Gefieder. Dein Haar hat mich daran erinnert.« Und dann errötete sie.
» Ich kenne den Sperber, doch weiß ich nicht, woher. Ein kleiner Räuber, nicht sehr stark, aber geschickt«, sagte Anuq schließlich höflich, weil es in der ärmlichen Hütte so still geworden war.
» Und du weißt wirklich nicht, wo du herkommst?«, fragte Asgo.
Der Namenlose schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht – irgendetwas oder irgendjemand hatte ihm die Erinnerung geraubt. Das machte ihn zornig. Und nun sollte er einen Vogelnamen tragen – Anuq. Das war lächerlich!
» Erinnerst du dich wirklich an gar nichts?«, fragte das Mädchen nicht zum ersten Mal.
Er schloss die Augen und starrte in seine innere Finsternis, bevor er antwortete: » Manchmal, da blitzen Bilder auf, die ich nicht erkennen kann. Weiße Felsen, ein verzerrtes Gesicht, jemand scheint zu schreien, aber nicht mehr.« Da war noch etwas, ein Bild von einer Frau, undeutlich, nur ein sanft geschwungener Nacken und samtene Haut, aber das behielt er vorerst für sich. Er spürte eine Verbindung zu dieser Frau, und es machte ihn wütend, dass man ihm auch die Erinnerung an sie geraubt hatte. Sollte er einfach nur abwarten, bis der Köhler von seinem geheimnisvollen Ausflug zurückkehrte? Nein! Er stand auf. » Ich brauche andere Kleidung«, sagte er.
» Ich kann den Riss in deinem Wams flicken, wenn du willst. Das Tuch deiner Gewänder ist besser als alles, was wir dir anbieten könnten.«
» Ich muss in die Stadt, denn nur, wenn ich in Erfahrung bringe, was dort vorgefallen ist, kann ich vielleicht das wiedererlangen, was mir genommen wurde. Dabei sollte ich aber etwas weniger Auffälliges tragen. Und ich kann euch nicht sagen, warum, aber ich verbinde Unheil mit diesen Gewändern.« Er starrte auf seine schwarzen Kleider. Sie hatten viele kleine Taschen, auch auf der Innenseite, aber sie waren alle leer, es gab nichts, das etwas über ihren Besitzer verriet. Es schienen ihm aber die Gewänder eines Mannes zu sein, der etwas zu verbergen hatte. Hatte er etwas zu verbergen?
» Vater hat gesagt, du sollst warten«, meinte Asgo.
» Und worauf? Er hat ja weder euch noch mir gesagt, wo er hinwill mit seinem Krug Milch«, sagte der Namenlose, und er versuchte, nicht zu sehr durchklingen zu lassen, wie wenig er von dem Köhler hielt.
» Du willst also in die Stadt?«, fragte das Mädchen. Sie nahm ihre graue Schürze ab.
Er nickte. Alles war besser, als tatenlos herumzusitzen.
» Ich begleite dich«, erklärte sie schlicht.
» Vater würde dir das nie erlauben. Und er wird bestimmt sehr wütend, wenn er es
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