Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Namenlose hörte sie näher kommen. Der kürzeste Fluchtweg wäre zum Bach hin. Er musste über die Gasse springen, zwischen zwei Häusern durchschlüpfen, den Weg am Ufer überqueren, und schon könnte er sich in den Bach stürzen, tauchen und entkommen. Es sei denn, es standen auch dort Soldaten. Und er hatte den Bach gesehen: ein wildschäumendes Gewässer voller Felsen, die einem Mann leicht das Genick brechen konnten. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er gut genug, ja, ob er überhaupt schwimmen konnte. Er spähte zur Stadtmauer. Auch dort blinkten die Helme von Wachen im Mondlicht. Aber er konnte auch nicht abwarten, bis sie ihn noch weiter in die Enge getrieben hatten. Also doch der Bach? Nein, auch da waren jetzt Soldaten, er hörte sie rufen. Er kroch über das Dach zurück zur Luke, sprang und erwischte das Seil des Flaschenzugs. Auf der Westseite, da, wo der größere Teil der Neustadt lag, versperrte ein Riegel höherer Häuser den Weg, und dort sah er nur drei Männer auf den Dächern, noch dazu weit voneinander entfernt. Vielleicht dachten sie, er würde dort nicht hinaufkommen. Er wusste selbst nicht, ob er das schaffen würde, aber er würde es herausfinden. Außerdem hatten Häuser Fenster und Türen, und Fenster konnte er leicht einschlagen.
Die Rollen des Flaschenzuges quietschten verräterisch, als er sich vorsichtig nach unten hangelte. Er hörte Stimmen. Auch die Bewohner dieses Hauses hatten den Lärm in ihrer Straße vernommen und waren vor die Tür getreten. Er ließ sich fallen, landete härter, als er erwartet hatte, im dunklen Hof, unterdrückte ein Stöhnen, schlich nach hinten und kletterte über die Mauer des Hinterhofs. Im nächsten Hof gab es eine Pforte. Er fand sie verriegelt, schob den verrosteten Riegel langsam zurück, schlüpfte hinaus und drückte sich in eine dunkle Nische zwischen den Häusern. Die offene Gasse lag vor ihm, auf der anderen Seite lockten schützende Schatten. Wieder hörte er die Stimmen von Menschen, die durch den Lärm aus dem Haus gelockt worden waren. Sie entzündeten Laternen und begannen damit, die Dunkelheit aus der Gasse zu vertreiben. Er musste an ihnen vorüber. Er nahm seinen Mut zusammen und trat einfach auf die Straße, schlenderte auf die andere Seite, als hätte er schon immer hier gelebt, und verschwand im dunklen Gang zwischen zwei Häusern.
» Da ist er!«, rief eine helle Frauenstimme.
Er fluchte, rannte und sprang über eine Hofmauer, verletzte sich die Hand an Eisendornen, die dort oben in die Mauer eingelassen worden waren, riss sich Löcher in die Kleidung und ließ sich in den Hof fallen. Er hörte viele Füße herantrampeln, dann hämmerten seine Verfolger gegen die Pforte. Im Haus, zu dem der Hof gehörte, wurde eine mürrische Stimme laut, und Licht erschien im Fenster. Aber er war fast da. Der Hinterhof endete an einem der hohen Häuser, durch die er entkommen wollte. Sie waren sehr hoch, und sie kehrten dem Gerberviertel und seinen stinkenden Ausdünstungen ihre abweisenden Rückseiten zu. Und auf diesen Rückseiten gab es keine Fenster! Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Er saß in der Falle, nur noch durch eine hölzerne Pforte von seinen Verfolgern getrennt! Schwere Stiefel trabten heran, Eisen rasselte, die Soldaten waren also auch dort, und er hörte die missmutige Stimme des Hausherrn, der ein Fenster öffnete und fragte, was der Lärm zu bedeuten habe.
» Der Schatten, der Schatten ist in deinem Hof! Öffne das Tor, Mann!«, rief eine laute Stimme. Dann entdeckte der Namenlose die gestapelten Fässer in einer Ecke. Eine wacklige Pyramide aus Dauben, vielleicht eine Fluchtmöglichkeit. Hinter ihm splitterte Holz, die Soldaten schlugen mit roher Gewalt auf das Hoftor ein. Er rannte, sprang auf die Fässer, krallte sich in die Mauer, kletterte und hoffte, dass sein anderes Ich ihm irgendwie helfen würde. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
Nestur Quent wartete auf den letzten Gang. Die Zeit verrann unerbittlich, und er würde bald gezwungen sein, sehr unhöflich zu werden. Die anderen schienen weit weniger angespannt als er. Der Zunftmeister und seine Frau aßen immer noch für vier, Richter Hert saß einfach nur schweigend da und starrte finster vor sich hin, und der Baron, der leider den Vorsitz an der Tafel führte, schien alle Zeit der Welt zu haben und plauderte angelegentlich mit dem Gesandten Gidus über die Pflanzen- und Tierwelt der Fieberinseln im Süden Oramars. Quent hatte den Grafen für einen Idioten
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