Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
und fand Deckung hinter einem Kamin. Unten brüllte jemand nach einer Leiter. Vor ihm tauchte ein Soldat auf. Im schwachen Mondlicht konnte er sein Gesicht kaum erkennen, aber der Mann wirkte ebenso überrascht wie er selbst, ließ seine Armbrust fallen und griff nach seinem Schwert. Er rannte ihn über den Haufen und floh weiter. Der Mann schrie auf, rollte das Dach hinab, schrie noch einmal und verschwand in der Dunkelheit, und es dauerte lang, bis der Namenlose den dumpfen Aufschlag des Soldaten und seinen dritten, schmerzvollen Schrei hören konnte. Die Häuser waren Dach an Dach gebaut und zu hoch, um hinunterzuspringen, ohne sich dabei alle Knochen zu brechen. Sein altes, vergessenes Ich hätte es vielleicht vermocht, aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Er rannte weiter über die lange Reihe der Dächer Richtung Stadtmauer, obwohl er sah, dass sie dort schon auf ihn warteten. Er sah einfach keinen anderen Weg.
Auch hinter ihm tauchten jetzt immer mehr Soldaten auf. Sie mussten ihre Leiter schnell gefunden haben, und jetzt verfolgt ihn ein Dutzend Männer. Irgendwann musste sich doch eine Möglichkeit ergeben, von diesen verfluchten Dächern herunterzukommen! Die Wachen auf der Stadtmauer schickten ihm Armbrustbolzen entgegen. Er duckte sich und sah, dass die Soldaten ihn nur langsam verfolgten. Entweder hatten sie Angst abzustürzen, oder sie wollten warten, bis sie ihn mit noch größerer Überzahl in die Enge treiben konnten. Unten in der Straße flammten Lichter auf. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren nicht so groß wie jene, über die er flüchtete, aber aus ihren Türen kamen aufgeregte Männer, Männer, die sich mit Knüppeln und Werkzeugen bewaffnet hatten, offenbar eine Art Bürgerwehr. Warum waren diese Menschen nicht auf dem Jahrmarkt? Ich hätte gleich springen sollen, dachte er. Doch nun war es zu spät, und vermutlich hätte er sich dabei ohnehin nur alle Knochen gebrochen. Nun konnte er weder vor noch zurück.
Der Kommandant seiner Verfolger brüllte den Männern auf der Mauer zu, dass sie mit dem Schießen aufhören sollten, so nahe waren sie ihm schon gekommen. Er kannte die Stimme – sie gehörte dem Leutnant, der die Vorratskammer der Grams’ durchsucht und den er beim Kampf in der Schänke gesehen hatte. Aber das half ihm nicht. Es gab keinen Ausweg – keinen, den er nehmen konnte. Also musste er sich doch auf sein dunkles Ich verlassen. Er lief hinauf zum First, um seinen Anlauf zu verlängern, rannte das Dach hinunter und sprang, sprang über die Gasse und die brüllende Bürgerwehr und landete hart auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Er hoffte, dass der verborgene Teil seiner selbst nun das Schlimmste schon irgendwie verhindern würde, aber das geschah nicht. Stattdessen brach er durch die Ziegel und stürzte in die Tiefe. Er schlug hart auf, und Staub und Nebel verschluckten ihn.
Er spürte jeden einzelnen Knochen im Leib, hustete und rang nach Luft, denn er war in dicken, weißlichen Nebel gehüllt. Als er aufblickte, erahnte er kaum das Loch, das er in das Dach gerissen hatte. Er sah genauer hin und erkannte, dass er auch mindestens durch einen der darunter liegenden Fußböden gebrochen war.
» Mein Mehl! Was macht er da in meinem Mehl?«, rief eine empörte Stimme.
Der Namenlose befreite sich von Ziegelsplittern und Dachsparren, kam auf die Beine und versuchte, sich zu orientieren. Es war warm. Er stand in einem großen, hölzernen Kübel, gefüllt mit einem feinen, hellen Pulver. Mehl! Er war offensichtlich in einer Bäckerei gelandet. Im Nebel war eine Bewegung. Ein dicker, weiß gekleideter Mann fuchtelte mit irgendetwas in der Luft herum und stieß Laute der Empörung aus. Von draußen drang Lärm heran. Die Bürgerwehr!
» Bei den Göttern! Wenn ich ihn zu fassen kriege, werd’ ich ihn lehren!«, rief der dicke Mann, machte aber keine Anstalten näherzukommen. Der Mehlstaub hing schwer in der Luft. Jetzt flog die Tür auf, und die ersten Männer der Bürgerwehr stürmten herein. Der Namenlose griff sich einen herumliegenden Schieber und schleuderte ihnen Mehl entgegen. Sie schrien und wichen zurück, als hätte er sie mit kochendem Öl übergossen. Blut rauschte in seinen Ohren, und ein dunklerer Teil von ihm wünschte sich, dass es wirklich Öl gewesen wäre, verlangte von ihm, dass er stehen blieb, um dieser lächerlichen Bürgerwehr Mann für Mann den Hals umzudrehen. Aber er schüttelte die Gedanken stöhnend ab und rannte durch eine
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