Schattenprinz
seit meinem ersten Ausflug als Greyfriar aufs Festland. Vor etwa dreißig Jahren.«
In all dieser Zeit hatte er nur so wenige zusammengetragen? Das war ein trauriges Zeichen dafür, wie selten Bücher im Norden geworden waren.
»Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich das niemals für möglich gehalten«, sagte sie sanft. »Ein Vampir mit einer Bibliothek. Dennoch bist du hier.«
»Vielleicht ist die Welt nicht, wie wir glauben, dass sie sein muss. Vielleicht müssen unsere Spezies nicht miteinander im Krieg liegen.«
»Ein schöner Gedanke«, meinte sie zweifelnd. »Aber dein Bruder wird sich niemals ändern.«
Gareth schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht. Er wird stattdessen sterben müssen.«
Adele war erschrocken über seine Direktheit. »Das ist ziemlich gefühlskalt.«
Gareth zuckte nur mit den Schultern.
Sie streckte die Hand nach einem der Bücher aus. Es war ein mit Bildern illustrierter Abenteuerroman für Jungen. Offensichtlich erzählte er die Geschichte eines jungen Mannes, der Unrecht bekämpfte, indem er sich durch die Nacht stahl, Jungfern in Nöten rettete und Schurken mit Schwertern und Pistolen einen Strich durch die Rechnung machte. Ihre Augen weiteten sich, als sie die melodramatische Aquarellzeichnung des schneidigen jungen Helden in Umhang und Maske sah.
Nachdenklich musterte Adele den hochgewachsenen Vampir, der neben ihr stand, den Kopf leicht schräg geneigt, und sie neugierig ansah. Er hatte einen Hauch von Erwartung an sich, während sie ein Buch in Händen hielt, das er offensichtlich sehr schätzte.
Als sie ihn nur stumm anstarrte, erkannte Gareth an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas nicht in Ordnung war. »Sind die Bücher nicht nach deinem Geschmack? Findest du sie anstößig? Ich kann nur vermuten …«
»Sehnst du dich so sehr danach, menschlich zu sein?« Adeles Finger glitten über die heldenhafte Gestalt auf dem Umschlag.
»Das kann niemals sein. Aber es gibt immer noch so viel, das ich über euch wissen will.«
»Was zum Beispiel?«
Gareth lächelte breit, und seine Augen strahlten bei der Aussicht auf Antworten. »Zum Beispiel, warum stillen Menschen ihre Kinder so lange? Warum erschafft ihr Musik? Warum sind eure Körper so schwer?«
Die Fragen strömten aus ihm heraus, bis Adele ihn mit einer sanften Berührung ihrer Hand zum Verstummen brachte. »So viele Fragen«, bemerkte sie. »Und so wenige, die ich beantworten kann, da ich mir selbst noch nie Gedanken über diese Dinge gemacht habe.«
»Dann kannst du sie nicht beantworten?« Gareth wirkte niedergeschlagen.
»Ich nehme an, einige schon.« Adele überlegte ein paar Sekunden. »Ich vermute, wir stillen unsere Kinder so lange, weil wir sie lieben. Wir wollen sie groß und stark aufwachsen sehen.« Sie verstummte und betrachtete ihn fragend. »Haben Vampire … Kinder?«
»Ja, natürlich.«
Adele lehnte sich zurück. »Wirklich? Weißt du, wir glaubten immer, ihr Vampire erschafft mehr von eurer Art, indem ihr Menschen mit eurem Biss infiziert. Oder zumindest glaubten wir das früher. Jetzt wissen wir es einfach nicht.«
»Nein. Wir …« Gareth verstummte. »So wie ich es verstehe, gilt es in eurer Kultur als ungehörig, dass ein Mann solche persönlichen Themen mit einer Frau bespricht.«
»Solche persönlichen Themen?« Die Prinzessin setzte sich auf und beugte sich vor. »Meinst du damit Sex? Vampire haben Sex?« Sie spürte, wie sich ihr Gesicht vor Aufregung rötete, und versuchte es zu verbergen, indem sie wieder auf die Bücher starrte. Sie unterhielt sich gerade über ein verbotenes Thema mit einem verbotenen Mann.
Er blieb stumm.
Dennoch fuhr die junge Frau fort. »Also können weibliche Vampire schwanger werden?«
»Ja.« Er ließ sich auf ein Knie nieder und nahm den französischen Gedichtband aus der Truhe. »Ich habe da eine Frage zu einer bestimmten Formulierung, die …«
»Wechsle nicht das Thema«, schalt sie ihn. »Geschieht es auf dieselbe Weise wie bei Menschen? Das mit der Schwangerschaft, meine ich.«
»Ich nehme es an.«
»Hast du schon … ein Kind gezeugt?« Es bestand keine Möglichkeit, sich bei einer Frage wie dieser schüchtern zu geben, aber sie war neugierig.
»Prinzessin, bitte!«
»Es tut mir leid, es tut mir leid!« Adele verspürte ein wunderbares Gefühl der Genugtuung, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Situation war ihm äußerst unangenehm, und es bereitete ihr ein eigentümliches Vergnügen, die Schrauben noch ein wenig fester
Weitere Kostenlose Bücher