Schattenreiter
lachte und sprach: ›Welches Geheimnis meinst du? Es ist offensichtlich. Warum können es deine Augen nicht sehen?‹
›Halt mich nicht zum Narren, Alter. Sag mir, was ich wissen will, oder eure Frauen und Töchter werden mit ihrem Blut bezahlen.‹
Die Worte Chapmans versetzten die Krieger des Stammes in große Aufregung. ›Während wir hier sitzen, haben meine Männer euer Lager umstellt‹, verkündete Chapman siegesgewiss.
Die Frauen waren ins Lager mitgekommen, um die Verwundeten zu versorgen. Sie würden sich nicht wehren können. Einige von ihnen waren schwanger, die anderen hüteten kleine Kinder, die sie nicht im Dorf hatten zurücklassen können. Wie sollten sie sich gegen Chapmans Angriff verteidigen?
›Ich sagte dir die Wahrheit, Chapman‹, versicherte der Siruwathi. ›Es liegt allein an dir, mit den Zorwaya in Kontakt zu treten. Sie um die Gabe zu bitten.‹
›Jetzt fang nicht mit dieser Zorwaya-Scheiße an‹, erwiderte Chapman. ›Ich glaube nicht an Gespenster, alter Mann. Ich will jetzt Antworten, sonst gebe ich meinen Leuten das Zeichen zum Angriff.‹
Auf einem Hügel unweit entfernt hatte sich einer von Chapmans Helfern positioniert, um ein Rauchzeichen zu geben.
Die Krieger wurden nervös. Es waren ihre Frauen und Kinder und die harmlosen Handwerker, die sie zurückgelassen hatten. Sie hofften, der Häuptling würde einen Ausweg finden. Aber der konnte nicht mehr sagen als die Wahrheit. Es war an Chapman, sie anzunehmen, sie zu glauben.
›Ihr seid Narren‹, sagte er und schnipste mit dem Finger. Das Zeichen wurde gegeben. Rauchwolken zogen bedrohlich über den Himmel. Ein Teil der Männer verwandelte sich auf der Stelle und eilte zum Lager zurück, um die Angreifer in die Flucht zu schlagen. Ein anderer Teil ging auf Chapman und seine Männer los. Die griffen nach ihren Waffen und schossen den Häuptling und seine Krieger nieder. Zur selben Zeit wurden auch die Frauen regelrecht hingerichtet.
Nur wenige Ti’tibrin E’neya überlebten diesen grausamen Angriff. Sie zogen sich tief in den Wald zurück, gaben ihr Lager auf, um nur noch in ihrem Dorf zu leben.
Jeden Tag trauerten die Ti’tibrin um die Verstorbenen. Doch schon bald wurde aus dem Schmerz Zorn, eine Empfindung, die ihnen zuvor fremd oder zumindest nicht in solcher Intensität bekannt gewesen war.
Der Durst nach Rache erwachte in ihnen, aber der neue Häuptling rief zur Besonnenheit auf. Er wusste, dass die Ti’tibrin nichts gegen die Siedler ausrichten konnten, weil deren Waffen den unseren überlegen waren. Noch dazu hatten wir immense Verluste erlitten. Der Häuptling ahnte, dass uns der Hass zerstören und wir unseren eigenen Untergang heraufbeschwören würden, wenn wir ihm nachgaben. Also schworen wir von diesem Weg ab. Verließen uns stattdessen auf unsere Stärken, unsere Bräuche, unsere Magie und lebten fortan unter unseresgleichen, wie wir es früher getan hatten.
Die Natur schützte uns. Kein Mensch fand jemals unser Dorf, denn es war und ist gut verborgen für eure Augen.
Ich arbeitete als Handwerker. Die Ti’tibrin liebten meinen Schmuck aus Holz oder Steinen und die Statuen,die ich schuf. Ich wollte nur noch Schönes schaffen, die schrecklichen Bilder, die ich gesehen hatte, vergessen. Und so verging die Zeit, ein Kreislauf endete, ein neuer begann. Die Siedler, die uns überfallen hatten, waren längst tot. Mit der Zeit verblassten die Wunden, sie schlossen sich aber nie ganz.
Eines Tages ging ich durch den Wald, auf der Suche nach schönen Steinen, die ich für eine Halskette verwenden konnte, als ich einen Hilfeschrei vernahm.
Beunruhigt folgte ich der Richtung, aus der der Schrei gekommen war, und entdeckte eine Menschenfrau, die verzweifelt versuchte, sich im See über Wasser zu halten. Es schien, als hätte sie einen Krampf bekommen. Ihre Kräfte ließen nach. Immer wieder tauchte ihr Kopf unter.
Ich versteckte mich im Schilf, beobachtete ihren Kampf und dachte bei mir, dies sei der Ausgleich für den Tod unserer Frauen und Kinder. Doch während ich mich ganz meinen dunklen Gefühlen hingab, rührte sich etwas in meinem Inneren, in meinem Herzen. Dies war kein Siedler, diese Frau hatte nichts mit dem Verrat Chapmans zu tun. Sie war eine Unschuldige. Konnte ich sie wirklich für etwas büßen lassen, wofür sie nichts konnte? Die Frau versank im Wasser. Und dieses Mal kehrte sie nicht an die Oberfläche zurück.
Ohne länger darüber nachzudenken, stürzte ich in den See, tauchte unter
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