Schattenreiter
»Entschuldige, dass ich dich störe. Aber unten ist jemand, der dich gern sprechen würde.«
Wer konnte das sein?
Ich ging hinunter ins Café. Dort saß ein älterer Herr an der Theke, der einen alten Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen hatte. Ich musterte ihn unauffällig. Die rauen Hände verrieten, dass er mal hart gearbeitet hatte.
»Hier ist sie, Roy«, sagte meine Tante und schob mich vor.
Das war also Roy. Ich hatte viel von ihm gehört, war ihm aber bisher nie persönlich begegnet.
Er hob den Kopf. Seine Augen waren so dunkel, dass ich sie unter dem Schatten des Hutes kaum erkennen konnte. Tiefe Furchen zeichneten seine Wangen. Die Haut war gebräunt, aber rau und faltig. Lange silbrige Haare fielen ihm über die Schultern. Er trug das obligatorische Holzfällerhemd und eine Latzhose, die Rins ähnelte.
»Guten Morgen, Mr Wright.« Ich reichte ihm die Hand, und er schüttelte sie kräftig. Oh ja, diese Hände hatten vor seiner Zeit als Souvenirshop-Verkäufer kräftig zugepackt.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
Meine Tante verschwand in der Küche. Ich wünschte, sie wäre da geblieben. Roy hatte etwas an sich, das mir irgendwie unangenehm war. Vielleicht lag es an seiner strengen Miene. Sie war kühl und emotionslos. Er sah aus wie ein Mann, der nicht viel redete und auch nicht viel für andere übrighatte, was jedoch gar nicht zu dem passte, was man mir über ihn erzählt hatte. Vielleicht gab es also einen guten Grund für seine schlechte Laune.
»Mein Sohn Isaac hat Rin und dich heute Nacht gesehen.« Eine leise Kritik schwang in seiner Stimme mit. Als missbilligte er diesen Umstand.
»Kann schon sein. Er hat mich nach Hause gebracht.« Ich wunderte mich über das Gesprächsthema. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er über Sid oder seinen Hund reden wollte. Alles andere ging ihn meiner Ansicht nach nichts an. Es war meine Sache, mit wem ich mich traf. Ich fühlte mich an Pway erinnert, der mir nachspioniert hatte. Aber was erwartete ich? In einem Ort wie Calmwood kannte jeder jeden, und Privatsphäre gab es so gut wie keine. Rin und ich sollten wirklich vorsichtiger werden.
Seine Miene verfinsterte sich.
»Worauf wollen Sie denn hinaus, Roy?«
Roy nahm seelenruhig seine Tasse und trank einen kräftigen Schluck Kaffee. »Wir kennen beide das Geheimnis«, sagte er dann und stellte die Tasse wieder auf den Tisch.
»Ich verstehe nicht.«
»Doch, das tust du.«
Er legte ein unordentlich gefaltetes Papier auf die Theke und strich es mit beiden Händen glatt. Es war einZeitungsartikel. Vermutlich stammte er aus dem Rapid City News Journal. Das Journal druckte seine Überschriften immer in einer bestimmten Schriftart, die wie Western-Schrift aussah. Auch ein Foto war abgebildet, das die Gebeine eines Kriegers und dessen Grabbeigaben zeigte.
Roy schob mir den Artikel wortlos zu. Ich las ihn durch und merkte allmählich, worauf er hinauswollte. Er wusste ebenfalls, wer oder, besser gesagt, was Rin war. Und dieses Skelett, das sie gefunden hatten, war vermutlich ein Krieger seines Stammes. Auf der Bisonrobe des Verstorbenen hatten die Wissenschaftler Kentaurenmotive gefunden. Fälschlicherweise nahmen sie an, es handelte sich um Abbildungen uralter Götter. Wie sollten sie auch ahnen, dass es Kentauren wirklich gab?
Jemand ging dicht an uns vorbei zur Toilette. Rasch schnellte Roys Hand vor und griff nach dem Artikel, den er ebenso schnell wieder zusammenfaltete und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»Wo immer sie und die Menschen zusammentreffen, endet es so«, sagte er im gedämpften Ton, darauf bedacht, dass niemand außer mir ihn hörte. »Der Tote, den sie ausgegraben haben, ist ein mächtiger Krieger gewesen. Er starb im Kampf gegen die Siedler und wurde von den Ti’tibrin in den Badlands, die sie Hokatriri nennen, beerdigt. Für sie ist das ein heiliger Ort, ein Ort der Ruhe, des Friedens. Ihn nun auszugraben und auszustellen wird ihren Zorn wecken. Sie werden es als Provokation ansehen, als Störung der Totenruhe.«
»Das war doch kein böswilliger Akt. Außerdem, was hat das Ganze mit Rin und mir zu tun?«
Ich hielt inne. Der Gast ging ein zweites Mal an uns vorbei und kehrte zu seinem Tisch im Vorgarten zurück.
»Ich werde das Geheimnis bewahren. Von mir erfährt niemand etwas«, versicherte ich ihm nachdrücklich und beugte mich dabei zu ihm vor. »Rin und mich verbindet viel mehr, als Sie denken.« Während ich das sagte, spürte ich Rins Wärme an und in mir. Mein
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