Schattenreiter
und zog sie ans Ufer. Dort bettete ich sie ins Gras, legte meinen Kopf auf ihre nackte Brust und lauschte, ob ihr Herz noch schlug.
Es war ein kräftiger, kämpferischer Rhythmus, der mich erkennen ließ, dass das Menschenweib mehr Stärke in sich trug, als es den äußerlichen Anschein hatte.
Plötzlich riss sie die Augen auf. Ein Schwall Wasserspritzte ihr aus dem Mund. Sie zitterte am ganzen Körper, der sehr schlank, beinahe zerbrechlich wirkte. Dann sah sie mich an. Das Blau ihrer Augen war außergewöhnlich hell und intensiv, wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. ›Danke‹, sagte sie.
Ich war sprachlos, wusste nicht, was ich antworten sollte, obwohl ich ihre Sprache beherrschte. Wir hatten sie von den ersten Siedlern gelernt, um Handel mit ihnen treiben zu können. Zum ersten Mal schien es mir wirklich von Nutzen, sie zu beherrschen. Und dennoch kam kein Laut über meine Lippen. Ich war wie erstarrt. Ein schöneres Wesen hatte ich nie zuvor gesehen.
›He, Indianer, lass sie in Ruhe!‹, erklang eine Männerstimme hinter mir.
In zwei Sätzen war er bei mir und baute sich vor mir auf, in dem Wahn, das Weib vor mir schützen zu müssen. Ich erwartete keine Hilfe von ihr. Menschen konnte man nicht trauen, diese Lektion hatte mein Volk schmerzlich gelernt. Also wich ich zurück. Ich wollte keinen Streit. Und dennoch griff ich instinktiv nach meinem Dolch.
›Nicht, John, er hat mich gerettet‹, sagte die Frau plötzlich.
›Ist das wahr?‹ Sein Gesicht veränderte sich, wurde freundlicher, heller. Ich war überrascht von der Wandlung.
›Sie sagt … die Wahrheit‹, entgegnete ich, froh darüber, dass mir endlich die rechten Worte einfielen.
Der Mann reichte mir die Hand. ›Ich bin Cathleens Bruder. Vielen Dank. Wir stehen tief in Ihrer Schuld.‹
Das war der Beginn einer tiefen Freundschaft. In mir erwachte eine Neugier auf die Menschen und ihre Welt,die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich folgte ihnen in ihre Stadt, lernte ihre Sitten und Gebräuche kennen, war erstaunt, wie sehr sie sich verändert hatten. Ja, das waren andere Menschen als die, gegen die wir gekämpft hatten.
Sie waren voller Neugier, voller Forscherdrang, sie achteten Dinge, die ihre Vorfahren als unwichtig gewähnt hatten.
Cathleen wich nie von meiner Seite. Und ich genoss es, sie in meiner Nähe zu haben, obwohl ich wusste, wie unvernünftig es war. Weder der Häuptling noch die anderen kannten mein Geheimnis, das ich hütete wie einen kostbaren Schatz. Immer öfter gab ich mich Tagträumen hin, vernachlässigte meine Arbeit und sehnte mich nach ihr. Die Ti’tibrin spürten, dass etwas mit mir nicht stimmte, doch es war nur ein vager Verdacht.
Als ich mich mit Cathleen an unserem See traf, wie wir es oft taten, gestand sie mir, dass sie sich in mich verliebt hätte. Mein Herz flatterte vor Freude und Aufregung. Und als sie mich scheu küsste, fühlte ich mich lebendiger denn je.
Ich ahnte nicht, dass mir ein Krieger gefolgt war, der herausfinden wollte, warum ich mich jeden Abend davonstahl, anstatt mit der Familie zu essen. So wurde er Zeuge ausgerechnet jenes ersten unschuldigen Kusses. Empört trat er aus seinem Versteck, um mich zur Rechenschaft zu ziehen.
›Du bist ein Verräter‹, schrie er mich an, forderte mich auf, das Weib davonzujagen, mich von Menschen fernzuhalten.
›Cathleen ist anders‹, versuchte ich, ihm zu erklären, aber er glaubte mir nicht.
›Sie wird unser Untergang sein! Ich werde dafür sorgen, dass du sie niemals wiedersiehst!‹
Ich wusste, was seine Worte bedeuteten. Er wollte sie töten. Aber das konnte ich nicht zulassen! Er stürzte sich auf mich, und ein wilder Kampf entbrannte. Doch es war ein Unfall, der über meinen Sieg entschied.
Ich stieß meinen Gegner nieder, und er fiel unglücklich mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Von da an regte er sich nicht mehr. Seine Augen blickten starr ins Leere. In ihnen war kein Leben mehr. Er hatte die große Reise zu den Sternen angetreten.
Als die Ti’tibrin E’neya erfuhren, was geschehen war, herrschte großes Entsetzen unter ihnen. Ich musste vor den Ältestenrat treten, um mich für meine Tat zu verantworten. Sie hörten mich an und sprachen ihr Urteil. Man glaubte mir, dass ich den jungen Krieger nicht hatte töten wollen. Dennoch hatte ich die wichtigste Regel der Ti’tibrin gebrochen, niemals ein Mitglied unseres Stammes zu töten. Sie schickten mich fort, in ein neues Leben, das ich mit Cathleen begann. Trotz
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