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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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doch Inger Lieson hatte sich schnell gefangen und ging mit den leeren Thermoskannen davon.
    Verhoeven überlegte einen Augenblick, dann folgte er ihr.
    Sie war bereits an der Tür zur Küche, als er in die Diele trat, drehte sich jedoch sofort zu ihm um. »Ich war mir zuerst nicht sicher«, begann sie, bevor er fragen konnte. »Deshalb habe ich nichts gesagt.«
    »Und jetzt sind Sie’s?«
    Inger Lieson sah ihn an. »Ja«, sagte sie. »Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass ich die Frau auf dem Bild schon einmal gesehen habe.«
    Verhoeven stutzte. »Sie meinen die Frau auf dem Phantombild?«
    Sie nickte.
    »Wann und wo?«
    »Auf irgendeiner Veranstaltung im Staatstheater«, antwortete sie. »Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber Walther war einer der Ehrengäste, ein paar seiner Kollegen und Freunde waren da, und es wurde Sekt gereicht und irgendwelche Kanapees.« Die Bankiersgattin stellte die Thermoskannen, die sie noch immer in der Hand hielt, auf einem schmalen Konsoltisch ab, der vor der Tür zur Küche stand. »Ich fühle mich nie besonders wohl auf solchen Veranstaltungen«, erklärte sie, indem sie sich mit dem Rücken gegen die raue Wand lehnte. »Wenn ich all diese aufgetakelten, smalltalkenden Leute sehe, würde ich mich am liebsten irgendwo verstecken. Oder am besten gleich ganz verschwinden. Irgendwohin, wo mich keiner kennt.« Sie schenkte Verhoeven ein Lächeln, das wie eine Entschuldigung wirkte. »Na, wie auch immer. Jedenfalls hatte ich mich in irgendeine Ecke zurückgezogen, um meine Ruhe zu haben und mir den Zirkus aus der Ferne anzusehen. Und da ist sie mir aufgefallen.«
    »Wodurch?«
    Sie überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich glaube, weil ich das Gefühl hatte, dass sie meinen Mann anstarrt.«
    Verhoeven spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
    Walther war einer der Ehrengäste ...
    »Aber das war es, glaube ich, nicht allein.« Inger Lieson blickte an ihm vorbei, während sie nachdachte. »Es ist ... Ja, wenn ich so zurückdenke, glaube ich, dass es auch ihr Gesicht gewesen ist.«
    »Können Sie beschreiben, was an diesem Gesicht so besonders war?«
    »Es machte den Eindruck, als sei sie gar nicht da.« Die Bankiersgattin strich sich eine Strähne ihres Haars aus der Stirn und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand, als böte sie Schutz gegen alle Widrigkeiten des Lebens.
    »Das ist eine interessante Formulierung«, sagte Verhoeven. Und in Gedanken fügte er hinzu: Und eine überaus treffende obendrein.
    Inger Lieson stieß sich von der Wand ab und sah ihm direkt in die Augen. »Glauben Sie, dass man verschwinden kann, ohne aufzuhören, anwesend zu sein?«
    Verhoeven vergrub die Hände in den Taschen seiner dunklen Anzughose. Walther Liesons Frau stellte Fragen, wie sie ihm in dieser Form noch nie begegnet waren. Er dachte daran, wie sie ihn gefragt hatte, ob er jemals das Gefühl gehabt hatte zu verblassen. Und was diese Frage in ihm ausgelöst hatte. »Ja«, antwortete er hastig. »Auf eine gewisse Weise ist das ganz sicher möglich.«
    Wenn die Frau vielleicht krank gewesen wäre , stimmte eine
imaginäre Britta Karlstadt ihm zu. Vielleicht hatte sie Alzheimer ...
»Die Frau, die ich gesehen habe, wirkte, als ob sie sich in einem von diesen Zuständen befände, in denen man nicht mehr man selber ist«, führte Inger Lieson derweil ihren Gedankengang weiter. »Zumindest nicht so, wie man eigentlich sein sollte. Oder wie man vielleicht irgendwann einmal gedacht war.«
    Verhoeven betrachtete die zarten Gesichtszüge der Bankiersgattin und überlegte, ob sie tatsächlich noch immer von der Unbekannten sprach. Oder doch auch ein bisschen von sich selbst. Er dachte an den unwirklichen, beinahe durchscheinenden Eindruck, den die Ehefrau des erfolgsverwöhnten Bankers von Beginn an auf ihn gemacht hatte, und auch an die Art, wie sie sich in sich selbst zurückgezogen hatte, als Goldstein mit ihrem Mann telefonierte.
    So als sei sie gar nicht da ...
    »Hatten Sie diese Frau jemals zuvor gesehen?«, stellte er ihr kurzerhand dieselbe Frage, mit der er ein paar Stunden zuvor bereits Britta Karlstadt konfrontiert hatte.
    Inger Lieson verneinte. »Bestimmt nicht.«
    »Und was genau tat die Frau, als sie Ihnen aufgefallen ist?«
    »Die beiden standen ein paar Meter von mir entfernt und ...«
    »Die beiden?«, unterbrach Verhoeven die Bankiersgattin alarmiert. »Soll das etwa heißen, die Frau war nicht allein?«
    Inger Lieson schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie«, stammelte sie,

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