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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Stelle einer normalen Vergangenheit getreten ist. Wütend macht, weil er der festen Überzeugung ist, dass sie was Besseres verdient. Und dass sie unverschuldet dort gelandet ist, wo sie jetzt ist. In diesem tristen Mietsblock, der ihn in seiner grauen Einfallslosigkeit geradezu fatal an die sozialistischen Wohnsilos der Neuen Neustadt erinnert. Das Leben ist schon verdammt unfair, denkt er. Und: Genauso hätte sie auch gelebt, wenn sie dort geblieben wäre, nach der Wende. Doch statt in einem Magdeburger Problemviertel, in dem sich die Fernwärmeleitungen seiner Kindheit selbst heute noch wie dicke, grüne Raupen über die löchrigen Straßen spannen, lebt sie nun in einer schlechten Gegend von Wiesbaden. Am äußersten Rand des Westens sozusagen, sozial gesehen, weil die winzige Rente, die ihr die neuen Zeiten als Entschädigung für das erlittene Unrecht zugestanden haben, zu mehr nicht reicht.
    Er bleibt kurz stehen und sieht ein Fenster im fünften Stock an, das trotz der herbstlichen Kühle sperrangelweit offen steht. Dahinter tönt das Gekeife eines alkoholisierten Ehekrachs. Der Lärm wird von den kahlen Mauern zurückgeworfen, und selbst noch der Nachhall schneidet ihm so schmerzhaft ins Ohr, dass er am liebsten schützend die Hände an den Kopf pressen würde.
    Er hat sich auch die anderen Gegenden der Stadt angesehen. Die guten. Sonnenberg und Komponistenviertel. Altbauromantik und noch immer nicht vollkommen verblassten Kurglanz. Bevor er herkam, hatte er sich ein Bild machen wollen. Um vergleichen zu können. Vergleichen und vielleicht auch ermessen.
    Jetzt allerdings wünscht er fast, er hätte es nicht getan. Dann hätte ihn die Trostlosigkeit ihrer Welt vielleicht nicht ganz so wuchtvoll treffen können.
    Tja, denkt er, nicht zu ändern ...
    Im Weitergehen fragt er sich trotzdem, wie sie es hier aushält.
    Ob sie es überhaupt aushält.
    Und was ihn erwartet.
    Irgendwann hat er ihnen, dem Mann und der Frau auf seinem imaginären Familienfoto, den Namen Mayer gegeben. Seltsamerweise hat er trotz der Häufigkeit dieses Namens nie jemanden gekannt, der Mayer hieß, erst recht nicht mit »ay«. Und doch hat er den Mayers viele Gedanken gewidmet. Gemeinsam mit Andreas hat er in den kurzen Zeiten, in denen sie sich einigermaßen unbeobachtet bewegen konnten, im Gras hinter dem Haupthaus gelegen und sich ausgemalt, wie sie wohl sind und wie sie leben, die Mayers. Mutige, unbeugsame Widerständler natürlich, der Vater höchstwahrscheinlich umgekommen bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden, die sie damals freilich nur vom Hören sagen gekannt hatten.
    Noch heute erinnert er sich daran, wie gut es sich angefühlt hatte, einen solchen Vater zu haben, so gut, dass selbst Andreas den heroischen Herrn Mayer eine Zeitlang mitbenutzt hat, obwohl er damals längst einen eigenen Vater hatte. Den haben sie ihm sogar gezeigt, diesen Vater, auf Fotos, also richtigen. Ausgereist sei er, den eigenen Sohn im Stich gelassen habe er, kaum dass der Antrag für ihn und seine Frau genehmigt war. Und »drüben« habe er dann auch gleich wieder einen neuen Sohn gezeugt. Und noch einen. Und noch einen.
    Ja, denkt er, das ist die Art von Familiengeschichte, die sie einem nicht vorenthalten haben. Warum auch? Es hatte ja prima funktioniert. Andreas hatte seinen Vater gehasst. Und Andreas hasste seinen Vater noch heute. Ein Grund dafür, warum er so erpicht darauf gewesen war, dass Jonas, der jüngste der drei im Westen gezeugten Brüder, sich ihnen anschloss. Er hatte seinem Vater etwas nehmen wollen. Aus Rache dafür, dass er selbst einst den toten Vater seines besten Freundes hatte mitbenutzen müssen.
    Seine Schritte werden immer langsamer. Als ihm das bewusst wird, zieht er das Tempo an und wünscht, er hätte bereits Gewissheit.
    Irgendwann, er weiß selbst nicht genau wann und warum, hatten sich die Mayers trotz des Vaters auf seinem imaginären Foto dann allerdings reduziert auf eine Frau, zu der der Name »Mayer« mit der Zeit immer weniger passen wollte. Das muss der Punkt gewesen sein, an dem er angefangen hat, nur noch an eine »Sie« zu denken. Sie, Mama, Mutti. Die Frau, die ihn zur Welt gebracht hat und die irgendetwas getan haben muss, das sie ihm vorenthält. Dass sie tot sein könnte, hat er nie für möglich gehalten, und eigentlich haben sie auch nie ernsthaft versucht, ihm das weiszumachen. Er könne froh sein, dass er da raus ist, war alles, was sie gesagt haben, wobei »da« wohl das bezeichnen sollte, was

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