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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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sichtlich verunsichert. »Das hätte ich wahrscheinlich gleich erwähnen sollen. Aber sie hatte tatsächlich jemanden bei sich. Einen jungen Mann.«
    »Was meinen Sie mit jung? Zwanzig? Dreißig?«
    Zu Verhoevens Überraschung lachte die Bankiersgattin laut los, als habe er irgendeinen absurden Scherz gemacht. »Stimmt«, sagte sie scheinbar zusammenhanglos. »Aber ist es nicht eigentlich verrückt, dass man bei sich selbst immer andere Maßstäbe anlegt als bei anderen?« Als sie sah, dass er ihr nicht folgen konnte, wurde sie schlagartig ernst. »Ich schätze, so jung war der Mann auch wieder nicht. Vielleicht ein paar Jahre jünger als ich.«
    Verhoevens Augen blieben fragend an Inger Liesons Gesicht hängen.
    Sie bemerkte es und konnte nicht umhin, zu schmunzeln. »Ich bin achtunddreißig«, sagte sie.
    »Somit war der Mann, den Sie gesehen haben, etwa Mitte dreißig?«
    »Ja«, sagte Inger Lieson. »Das dürfte ungefähr hinkommen. Es herrscht bei solchen Veranstaltungen natürlich immer ein fürchterliches Stimmengewirr, aber ich habe zufällig aufgeschnappt, wie der Mann etwas zu seiner Begleiterin sagte.« Die Bankiersgattin legte die Stirn in Falten. »Warten Sie ... Ja, er sagte wörtlich: Bist du ganz sicher? Und die Frau antwortete: Ich möchte gehen.«
    »Ist das alles?«
    Inger Lieson zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Ich fürchte, ja.«
    »Und wann, sagten Sie, war dieser Empfang?«
    Sie sah an ihm vorbei. »Vor ein paar Monaten«, antwortete sie. »Irgendwann im Herbst letzten Jahres, glaube ich.«
    »Haben Sie die beiden danach noch gesehen?«
    »Nein. Sie müssen tatsächlich gleich wieder gegangen sein.« »Und die Frau starrte Ihren Mann an?«
    »Das war zumindest mein Gefühl.« Die Bankiersgattin schien unsicher zu werden. »Aber bei so vielen Menschen ...«
    Bist du ganz sicher? , echote eine Stimme in Verhoevens Kopf. Er schloss die Augen und stellte sich das Gesicht der Frau vor, nach der sie suchten. Die feinen, normkonformen Züge, die den Eindruck vermittelten, als sei die Frau, zu der sie gehörten, irgendwo anders. Ich möchte gehen ...
    »Was glauben Sie, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen?«
    Und auch dieses Mal kam die Antwort der Bankiersgattin ebenso schnell wie entschieden: »Sie waren ganz unverkennbar verwandt. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen: Mutter und Sohn. Bloß, dass er ein ganzes Stück dunkler war als sie.«
    Mutter und Sohn! Verhoeven fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Könnten Sie den Mann beschreiben?«
    Sie schloss die Augen. »Ja«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube schon.«

V
 
 
Wir haben die toten Augen
gesehen und vergessen nie.
Die Liebe währt am längsten
und sie erkennt uns nie.
Ingeborg Bachmann, »Reigen«
     
     
     
    Wiesbaden, Oktober 2007
     
    Wann hat das eigentlich begonnen, überlegt er, wann hat er angefangen, sich ein Bild von seiner Mutter zu machen?
    Früh, so viel steht fest. Aber eigentlich ist es zuerst gar nicht seine Mutter gewesen, die er sich vorgestellt hat, zumindest nicht sie allein. Eigenartigerweise ist das früheste Bild, das er zu diesem Thema im Kopf hat, eine Familie. Mutter und Vater, und er selbst scheu lächelnd in der Mitte. Genau wie auf einer dieser abgegriffenen Fotografien, die ein paar von den Jungs aus seinem Schlafraum unter ihren Matratzen versteckten.
    Rückblickend allerdings kann er beim besten Willen nicht mehr sagen, warum seine Eltern ursprünglich zu zweit gewesen sein sollten, denn im Grunde ist er von Anfang an überzeugt gewesen, dass sein Vater nicht mehr lebt. Dass der Mann, der ihn gezeugt hat, schon damals tot war. Tot gleich von Anfang an. Vielleicht liegt es am Mythos, denkt er, dass dieser Vater, der tote, in meinen frühen Vorstellungen trotzdem irgendwie präsent gewesen ist. An diesem allgegenwärtigen Klischeebild einer Familie, das ganz offenbar auch vor seiner kindlichen Phantasie nicht haltgemacht hat. Ebenso wenig wie vor dem besseren Wissen. Oder aber, er hat einen Vater ergänzt, weil es im Ernst-Thälmann-Kinderheim so viele Männer gegeben hat und er sich Männer irgendwie besser vorstellen konnte.
    Egal ...
    Er sieht sich im Viereck der kahlen Häuserwände um und denkt, dass es wirklich keine gute Gegend ist, in der sie wohnt. Und dass ihn diese Tatsache irgendwie erleichtert und wütend macht zugleich. Erleichtert, weil sie zu der tragischen Geschichte passt, die in den vergangenen vierunddreißig Jahren immer plastischer an die

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