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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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man gemeinhin Zuhause nennt. Nicht in der Lage sei sie gewesen. Nicht fähig, ihrer Verantwortung als Mutter angemessen nachzukommen.
    Aber das hat er natürlich nie geglaubt.
    Im Laufe der Jahre ist sie in seiner Vorstellung dann immer konkreter geworden. Sie hat ein Gesicht bekommen. Ihre Augen einen Ausdruck. Und ohne es zu merken, hat er angefangen, sie um Rat zu fragen, wenn er nicht weiter wusste. Ihren Schutz zu suchen, wenn Andreas und er wieder einmal irgendeine ebenso erbarmungslose wie unsinnige Strafe abzuleisten hatten. Er hatte angefangen, ihr Verständnis für sein Handeln vorauszusetzen, ihre Nachsicht, ihr Wohlwollen. Schließlich waren Mütter doch so, wohlwollend. Oder war auch das nichts als ein Klischee?
    Er weiß es nicht.
    Im Weitergehen denkt er an die dumpfe Angst, die er empfunden hat, seit er beschlossen hatte, sich auf die Suche zu machen. Nach ihr, seiner Mutter. Der Frau auf seinem nicht existenten Familienfoto. Er denkt an das Gefühl von Beklemmung, das ihn erfasst hat, als sie ihm im Lesesaal der Birthler-Behörde ihr Dossier gereicht hatten. Ihre Akte. Die Geschichte ihres Lebens.
    Ylva ...
    So ein besonderer Name! Ihre Eltern müssen eine Menge Phantasie gehabt haben. Leider weiß er über die beiden nicht viel mehr, als dass sie irgendwann einmal wohlhabend gewesen sein müssen, ein Gut hatten, vor dem Krieg. Der Vater Offizier, in russischer Gefangenschaft verhungert, die Mutter Hausfrau, mit den beiden Kindern aus dem völlig zerbombten Magdeburg ausquartiert nach Klein Oschersleben vor den Toren der Stadt. Dort stirbt Ylvas Bruder sechsjährig an Scharlach, aber das hat er irgendwie nur am Rande zur Kenntnis genommen. Ein sechsjähriger Onkel übersteigt definitiv sein Fassungsvermögen, das schon mit dem wenigen überfordert ist, was er über Ylva, seine Mutter, lesen muss. Abgesehen davon ist er grundsätzlich der Meinung, dass man sich auf die Lebenden konzentrieren muss. Vielleicht auch das ein Grund, weshalb er seinen Vater irgendwann gelöscht hat.
    Ylva Bennet ...
    So ein Name!
    Er schüttelt den Kopf und sieht flüchtig auf den Zettel hinunter, auf den er Ylvas letzte bekannte Adresse gekritzelt hat. Irgendwie wird er noch immer nicht schlau aus dem, was er über sie weiß. Aber wenn er Glück hat, kann er sie in wenigen Minuten selbst fragen. Das wird helfen, denkt er. Endlich etwas, das helfen wird.
    Er faltet den Zettel zusammen, und er tut es so ordentlich, dass man meinen könnte, er wolle Zeit gewinnen. Den Moment der Wahrheit aufschieben, die Begegnung mit seiner ungelebten Vergangenheit, so sehr er diesen Augenblick auch herbeigesehnt hat. Wenn man im Leben vorher wüsste, was einen erwartet, denkt er, während er langsam, noch langsamer als zuvor, weitergeht, würde man wahrscheinlich gleich bei der Geburt ein Ende machen. Er ist kein gläubiger Mensch, ganz bestimmt nicht, aber irgendwie scheint es ihm beinahe unverantwortlich, ein Kind in eine solche Welt zu setzen.
    In die drüben genauso wie in diese hier. Diesen schäbigen Teil von Wiesbaden, der genauso weit vom langsam, aber sicher verbleichenden Kurglanz dieser Stadt entfernt ist wie Klein Oschersleben vom Mond.
    Er geht quer über den Rasen, der schon viel zu lange nicht mehr gemäht worden ist, und bleibt direkt vor der schmierigen Tür stehen. Metallene Klinke, darüber geschwärztes Milchglas mit einem Gitternetz aus Draht darin. Doch das ist jetzt eigentlich schon nicht mehr von Interesse, auch wenn sich sein Unterbewusstsein nur allzu gern von solch unwichtigen Details ablenken lässt.
    Herzklopfen beim Überfliegen der Klingelschilder.
    Dann ein Stocken. Auge und Herz.
    Bennet .
    Kein Y daneben. Aber der Nachname ist zu selten, als dass es die falsche Frau sein könnte. Sie wohnt in der vierten Etage, der Anordnung nach.
    Die Klingel muss irgendwann einmal weiß gewesen sein und fühlt sich klebrig an, was wohl bedeutet, dass jemand bei ihr gewesen ist. Vor ihm. Ein Kind vielleicht. Ja, denkt er, ein Kind mit klebrigen Fingern. Seltsamerweise macht ihn der Gedanke wütend. Auch wenn ihm klar ist, dass man ihr genauso gut einen Streich gespielt haben konnte. Dass klebrig nicht zwingend bedeutet, dass sie ...
    Er schiebt den Gedanken beiseite und ist plötzlich heilfroh, dass er Andreas gebeten hat, ihn dieses eine Mal nicht zu begleiten. Auch wenn sie sonst alles Wichtige im Leben zu zweit erledigen. Wahrscheinlich hat er gespürt, dass das hier etwas ist, das er allein erledigen muss. Ein Freund

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