Schattenriss
erschrocken zusammenfahren. Und auch Winnie fühlte, wie ihr das Blut in den Adern stockte. Ihre Augen tasteten sich zu Bernd zurück, doch dessen Waffe steckte nach wie vor im Bund seiner Hose. Ein Stück links davon gewahrte sie Alphas ausgestreckte Arme. Er legte beidhändig auf seinen Komplizen an, so wie man es auch im Rahmen der Polizeiausbildung lernte.
Das wagst du nicht , spotteten Bernds Glitzeraugen, die stur geradeaus gerichtet waren.
»Geh jetzt!« Alphas Ton wurde drohend. »Auf der Stelle!«
Obwohl der Anführer der Geiselnehmer wild entschlossen schien, seinen Befehl notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen, bezweifelte Winnie Heller, dass er tatsächlich die Skrupellosigkeit besaß, auf seinen Komplizen zu schießen. Er wird es nicht tun, dachte sie, wobei sie inständig hoffte, dass sich Brutalo-Bernd nichtsdestotrotz vom Gegenteil überzeugen ließ. Falls nicht, würde es eine Verschiebung der Machtverhältnisse geben, so viel stand fest. Und wenn erst einmal Bernd derjenige war, der hier das Sagen hatte ...
»Ich sag’s nicht noch mal ...« Alpha trat einen Schritt an seinen Kumpanen heran und hob die Waffe so, dass sie auf Bernds Kopf zielte.
Dieser drehte sich um und blickte seinem Anführer einige quälend lange Sekunden direkt in die Augen. Dann spuckte er etwas auf den bröckligen Boden vor sich und wandte sich ab. Er wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert. Eher im Gegenteil. Winnie Hellers Blick folgte ihm, als er mit straffen Schultern und federnden Schritten davonging, ein selbstbewusster, betont lässiger Abgang, der deutlich machte, dass sich ein Mann wie er selbst von einer geladenen Waffe nicht dauerhaft in Schach halten lassen würde.
Der Kerl hat seinem Kompagnon keine Sekunde abgenommen, dass er schießen wird, dachte Winnie Heller. Aber aus irgendeinem Grund hat er beschlossen, die Kraftprobe auf später zu verschieben. Ihr Blick suchte Alpha, der noch genauso stand wie zuvor. Ich an seiner Stelle würde von jetzt an beim Schlafen nur noch ein Auge zumachen, dachte sie, während sich die Watte in ihrem Kopf langsam, aber sicher wieder ausdehnte. Und unter keinen Umständen würde ich diesem Bernd den Rücken zuwenden ...
»So weit alles klar?«
Sie fühlte Alphas Hand unter ihrer Achsel. Und weil sie nicht ganz sicher war, ob sie sprechen konnte, nickte sie nur.
»Hey, Sie!«
Die Augen des Anführers blickten an ihr vorbei, zur Treppe. Sie waren von einem außergewöhnlich warmen Braun mit einem feinen, bernsteinfarbenen Kranz rund um die Pupille.
»Ja, Sie. Kommen Sie her und helfen Sie ihr!«
»Es geht schon«, nuschelte Winnie Heller, indem sie aus eigener Kraft versuchte, sich aufzurichten. Aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen.
»Haben Sie sie?«
Über ihrem Kopf erschien Quentin Jahns asketisches Gesicht. Es nickte, und Winnie Heller fühlte, wie sie von zwei Seiten gepackt und auf die Füße gezogen wurde.
»Glauben Sie, dass Sie gehen können?«
Sie nickte wieder.
»Gut.«
Gestützt von Alpha und Quentin, nahm sie die Treppe in Angriff. Und mit jedem Schritt, den sie ging, wurde ihr Kopf wieder klarer. Aber das zurückkehrende Bewusstsein brachte auch den Schmerz zurück. Er pochte in ihrem Kiefer, in ihrem Kopf, in ihrer Flanke, und sie fühlte, wie ihr die Beine wegzuknicken drohten. Doch Quentin Jahn hielt sie mit eisernem Griff. Im Gehen leckte Winnie Heller sich über die Lippen, die metallisch schmeckten. Aber das Blut begann bereits zu trocknen. Ganz so schlimm konnte es nicht sein.
Allerdings bereitete es ihr erhebliche Mühe, zu begreifen, dass diese Sache tatsächlich gut ausgegangen und die Gefahr fürs Erste abgewendet sein sollte. Denn an einer Erkenntnis führte nun einmal kein Weg vorbei: Irgendjemand hatte sie verraten. Jemand, der ihren Dienstausweis gefunden und ihn den Entführern ganz gezielt zugespielt hatte. Jemand, der mit ihr in der Grube war und der ganz offenbar sein eigenes Spiel spielte.
Ihr Blick fiel auf Abresch, der am Fuß der Treppe stand und hilfsbereit die Arme nach ihr ausstreckte.
Nein, verdammt , nicht der, flüsterte in diesem Augenblick völlig irrational eine Stimme in ihrem Kopf. Der andere ...
Alphas Griff lockerte sich. »Ruhen Sie sich aus.«
Winnie Heller nickte. »Wir wollten wirklich nur Hilfe holen«, nuschelte sie an ihrer geschwollenen Unterlippe vorbei. Und als ihr die Missverständlichkeit dieser Aussage bewusst wurde, fügte sie eilig hinzu: »Herrn Mousa geht es nicht gut.«
Alphas
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