Schattenschmerz
schon mehrfach bei ihm angerufen hatte. Außerdem erkannte er die Handynummer eines dpa-Journalisten. Sollte sich der Mann doch an die Pressestelle wenden, dachte Steenhoff. ‹Andrea werde ich nach dem Besuch im Krankenhaus kurz anrufen.› Das war er ihr schuldig. Schließlich kannten sie sich seit Jahren.
Der verletzte Gärtner erinnerte Steenhoff an eine einbalsamierte Mumie. Sein Kopf war ebenso verbunden wie sein Oberkörper und sein rechter Arm. Trotzdem konnte er sich für das kurze Gespräch mit Hilfe einer Krankenschwester im Bett aufsetzen. Wie Steenhoff befürchtet hatte, war die Vernehmung des Mannes wenig aufschlussreich. Zwar konnte sich der Gärtner an ein Schild erinnern, um das er mit seinem Fahrzeug herumfahren musste, aber er hatte dabei nichts Verdächtiges bemerkt.
«Holger und ich haben vorher noch Scherze gemacht …» Er stockte. «So von wegen, dass der Obama bin Laden uns jetzt einen freien Tag beschert, weil wir ja erst nicht in den Park hineindurften …»
«
Osama
bin Laden», korrigierte ihn Steenhoff unwillkürlich.
«Sag ich doch.» Der Mann wischte sich mit der linken Hand unbeholfen über die Augen. «Dann hat’s plötzlich geknallt.» Er sah Steenhoff hilflos an. «Ab dem Moment kann ich mich an nichts mehr erinnern. Das müsst ihr mir glauben.»
Steenhoff begann noch einmal von vorn mit seiner Befragung. Er war gerade bei dem Moment angelangt, als die beiden Männer mit ihrem Pritschenwagen vor den Absperrbändern der Polizei standen, als der verletzte Gärtner plötzlich anfing zu weinen.
«Holger war mein Kumpel … Wir haben uns häufiger am Wochenende getroffen und sind zusammen losgezogen. Der war in Ordnung … und jetzt … Sie haben ihn einfach in die Luft gesprengt. Einfach so!»
Der Mann fing jetzt hemmungslos an zu schluchzen, und Steenhoff wartete, bis er sich wieder etwas gefangen hatte.
«Haben Sie bei der Anfahrt zum Park jemanden bemerkt? Einen Verdächtigen, eine Gruppe oder sonst jemanden?»
Der Gärtner schüttelte den Kopf. Im selben Moment ging die Tür auf, und der Oberarzt, der Steenhoff benachrichtigt hatte, warf einen prüfenden Blick auf seinen Patienten. Mit strenger Miene sagte er: «Das muss für heute reichen.» Damit schloss er die Tür wieder hinter sich.
Zunächst wollte Steenhoff noch etwas erwidern, doch er entschied sich anders. Er legte seine Visitenkarte auf den Nachttisch des Mannes und verabschiedete sich.
Steenhoff hatte den Türgriff schon in der Hand, als der Gärtner sich noch mal zu Wort meldete: «Werden Sie die Schweine kriegen?»
Steenhoff drehte sich um und sah den Mann an. Der Gärtner wartete gespannt, doch Steenhoff zögerte. Er hasste falsche Versprechungen. Jeder von ihnen hatte im Laufe der Jahre Fälle gehabt, an denen sie sich die Zähne ausgebissen hatten und die man irgendwann ad acta legen musste. Irgendwann würde es auch ihn treffen. Doch er hoffte inständig, dass es nicht diesmal sein würde.
Steenhoff dachte an den toten Gärtner, dem sich ein Splitter vom Anhänger in die Brust gebohrt hatte und der noch am Tatort verblutet war. Er wollte dem Kranken gerade eine tröstliche, möglichst vage Antwort geben, als er die tellergroße, graue Landmine vor sich sah.
‹Wir haben es mit einem verrückten Killer zu tun›, durchfuhr es Steenhoff. ‹Vielleicht sogar mit mehreren.› Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Und das erste Mal, seit er am Montagmorgen zum Ort der Explosion gefahren war, fühlte er die Ungeheuerlichkeit, die sich hinter dem Verbrechen im Park verbarg. Bis zu dem Moment, in dem der verletzte Gärtner ihm die Frage stellte, hatte er einfach nur funktioniert. Jetzt wurde ihm der Brustkorb eng.
«Werden Sie die Kerle kriegen?», wiederholte der Gärtner. In seiner Stimme klang Hoffnung und Forderung zugleich.
«Wir haben keine Alternative. Wir müssen sie kriegen», sagte Steenhoff. Grußlos drehte er sich um und ging hinaus.
Am Ende des Flurs sah er den Oberarzt stehen, der mit einer Schwester ins Gespräch vertieft war. Der Mediziner schaute kurz hoch, hob die Hand, aber Steenhoff wollte jetzt nicht reden.
Aufgewühlt fuhr er mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und ging zu seinem Wagen zurück.
Die Verantwortung, die auf ihm und der Sonderkommission lastete, schnürte ihm den Hals zu. Steenhoff schloss die Augen und zwang sich, auf seinen Atem zu achten. Konzentriert sog er die frische Luft ein, hielt einen Moment inne und atmete wieder aus. Nach einigen Minuten hatte er
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