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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Mal und zwang sich, diesmal kein Wort auszulassen. Mitte letzter Woche hatte sie für ihren Chef den Tisch in dem Feinschmeckerrestaurant reserviert. Sie rechnete nach. Sechs Tage war das her. Sechs? Sigrid Werlemann nahm ihre Finger zu Hilfe. Fünf!
    ‹Ein Zufall›, befahl sie sich zu denken. ‹Nichts als ein blöder Zufall!›
    Zitternd stützte sich die Sekretärin an der Schranktür ab.

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    08
    Wenige Minuten bevor der Wecker klingelte, wachte Steenhoff auf.
    Draußen war es noch dunkel, und eine heftige Windböe rüttelte an dem reetgedeckten Dach.
    Steenhoff hatte unruhig geschlafen. Einen Moment lang kostete er noch die Wärme des Bettes aus, dann schlug er die Decke zurück. Ein Schauer rann ihm über den Körper. Es war eisig, denn er hatte das Zimmer seit Tagen nicht geheizt. Kurz überlegte er, ob er eine halbe Stunde in der Nähe seines Hauses auf dem alten Damm ins Moor joggen sollte, verzichtete aber dann darauf. Stattdessen schaltete er das Radio ein, legte sich auf den Boden und stemmte sich 20-mal hintereinander mit den Armen hoch. Dann drehte er sich auf den Rücken, hob die Beine im rechten Winkel an, überkreuzte die Unterschenkel und begann mit seinen täglichen 100 Sit-ups. Die Übungen waren ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass Ira vor einiger Zeit morgens spöttisch angemerkt hatte: «Ich wette mit dir, im Falle eines Feuers würdest du morgens erst deine Liegestütze machen und dann zum Feuerlöscher greifen. Vorausgesetzt, das schwere Ding ist dann nicht schon durch unseren verkohlten Holzfußboden ins Erdgeschoss gerauscht.»
    «Und was unternimmt meine emanzipierte Frau zur Rettung von Heim und Hof?», hatte Steenhoff gekontert.
    «Die dreht sich noch mal im Bett um und vertraut ganz auf ihren angetrauten Helden.»
    «Also alles wie früher, als wir Männer noch die Säbelzahntiger aus den Wohnhöhlen vertreiben mussten.»
    «Genau. Nur mit dem Unterschied, dass der Steinzeitmann keine Liegestütze und Sit-ups nötig hatte, um seine Wilma zu beeindrucken.»
    Bei der Erinnerung an das albern-ausgelassene Wortgeplänkel verspürte Steenhoff einen leisen Stich. Es war vor seinem Streit mit Ira gewesen.
    ‹Eigentlich haben wir uns gar nicht richtig gestritten›, dachte er, als er die Treppe zum Erdgeschoss hinunterlief, und stellte im selben Moment fest, dass der Gedanke wenig Tröstliches hatte. Im Gegenteil. Ein Anflug von Traurigkeit legte sich über ihn. Vergeblich suchte Steenhoff nach einer Erklärung dafür.
    Als er schließlich barfuß in der Küche stand und sich einen Kaffee aufbrühte, wusste er plötzlich, warum. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: ‹Wir sind uns fremd geworden.›
    Er setzte sich an den alten Holztisch und umfasste mit beiden Händen den heißen Kaffeebecher. Nachdenklich schaute er durch das Sprossenfenster in den noch dunklen Garten. Ein alter, krummgewachsener Fliederbaum hob sich gegen den zögernd heller werdenden Morgenhimmel ab.
    Weitere Situationen fielen ihm ein, in denen zwischen ihm und Ira eine unsichtbare Mauer gestanden hatte. Minuten, manchmal Stunden, in denen ihm die eigene Frau zur Fremden geworden war. So wie kürzlich: Sie hatten sich morgens am Tisch gegenübergesessen und beide in der Zeitung geblättert. Ira hatte ihn beim Lesen unterbrochen und ihm etwas aus einem Artikel vorgelesen. Dabei sah sie vergnügt aus. Doch an diesem Tag blieb sein Blick nicht wie üblich an ihren Lachfalten hängen, sondern an ihren ersten grauen Haaren.
    Vor einigen Monaten noch hätte er die Distanz bei einem gemeinsamen Frühstück oder einem Spaziergang als ein normales wiederkehrendes Phänomen in einer langjährigen Beziehung eingeordnet. Doch seit dem vergangenen Sommer gab es in seinem Leben ein neues Koordinatenkreuz: die Zeit vor und die Zeit nach Korsika.
    Verärgert schob Steenhoff die Erinnerung an seinen Tauchurlaub beiseite. Nicht schon wieder! Die Sache war geklärt.
    Steenhoff ging zurück ins Schlafzimmer, holte sich eine frische Jeans aus dem Schrank, ein weißes T-Shirt und ein blau kariertes Hemd, über das er einen V-Pulli zog. Seinem Spiegelbild an der Wand schenkte er nur flüchtig Beachtung. Stattdessen suchte er nach einem passenden Gürtel zur Hose. Gedankenverloren zog er sich an. Steenhoff nahm sich vor, ausreichend zu frühstücken. Der Tag würde wieder lang werden. Doch schon beim Toast wurde er ungeduldig. Unwillig drückte er den Schalter am Toaster hoch. Mit einem leisen Plopp sprang

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