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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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sondern wegen des Jungen, den sie aus Istalif mitnehmen wollten. Er sollte in Kabul operiert werden. Der Zwölfjährige konnte wegen seiner schweren Rückenverletzung nur auf der Seite liegen. Jedes Schlagloch, das der Fahrer übersah, ließ ihn aufstöhnen. Seine Mutter saß neben ihm im Fond des Wagens und streichelte sein Gesicht. Er hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt.
    Hinter der ersten Hügelkette fiel das Fahrzeug mit dem Jungen wegen einer kleinen Ziegenherde, die die Straße überquerte, ein paar hundert Meter zurück.
    Gerade, als sie um einen großen Felsen bogen, von dem aus man einen grandiosen Blick über die Shamalie-Ebene hatte, fuhr das Fahrzeug vor ihnen von der Straße ab. Vielleicht wollten sie anhalten, um ein Foto zu schießen? Oder einer der Männer musste kurz hinter einem Busch verschwinden?
    Plötzlich tat sich die Erde auf. Von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr, wie es vorher war. Eine gewaltige Staubwolke hüllte den Baum ein, an dem noch am Morgen die Kamelstute mit ihrem Fohlen gestanden hatte. Die Druckwelle drückte die Äste zu Boden und rüttelte wild an dem Kastenwagen. Dann spuckte die Wolke Steine, dicke Erdklumpen und Fahrzeugteile aus.
    Blitzschnell trat der Fahrer auf die Bremse. Da niemand im zweiten Auto angeschnallt war, flogen ihre Leiber mit Wucht nach vorne und wieder zurück. Benommen hörten sie den ungeheuren Knall der Explosion. Er schien die Welt bis ans Ende der Zeit auszufüllen. Wie festgefroren saßen sie auf den klebrigen Kunstledersitzen. Irgendwann öffnete einer von ihnen eine Tür und schälte sich vorsichtig aus dem Wagen. Das Auto vor ihnen hatte sich überschlagen und lag auf dem Dach. Orangefarbene Flammen züngelten aus dem Wrack.
    Von den verunglückten Insassen war nichts zu sehen.
    Die Mutter des Jungen bog sich wimmernd vor und zurück und wiederholte immer dieselben, fremd klingenden Worte. Der Fahrer wollte wieder einsteigen und die Flucht ergreifen. Nur weg von diesem Ort.
    Dieser Feigling.
    Der Zeigefinger an der Maus zögerte, zirkulierte in winzigen Kreisen über der linken Schaltfläche.
    ‹Wegschauen wäre Verrat.› Ein Gedanke wie ein Befehl.
    Die Fingerkuppe tippte die Schaltfläche an. Das Bild, das den Bildschirm jetzt komplett ausfüllte, war ein Albtraum: zerfetzte Körper und Gliedmaßen, Blut vermischte sich im Dreck der Straße mit auslaufendem Öl, ein abgetrennter Unterarm … Plötzlich erfüllte der Geruch von verbranntem Fleisch das Zimmer. Staub legte sich auf die Zunge, brannte in den Augen, kroch in jede Pore der Haut. Der Brechreiz war ebenso heftig wie der Hass.
    Von Germershausen hatte keine Nachricht für die Mütter und Väter von Paghman in der Zeitung hinterlassen. Er wollte nichts zahlen. Nichts wiedergutmachen. Noch nicht einmal den Versuch unternehmen. Er wollte nur sein blutbesudeltes Geld mit fremden Frauen durchbringen.
    Die nächsten Bilder huschten stakkatoartig über den Bildschirm. Apokalyptische Nahaufnahmen. Und mittendrin die Reste eines Menschen, der in Afghanistan angefangen hatte zu lieben und der zurückgeliebt wurde.
    Hasso von Germershausen hatte nicht nur einen, sondern viele Fehler begangen. Schlimmer noch, er war nicht bereit, sie zu korrigieren.
    ‹Menschen begreifen nicht, wenn sie nichts fühlen.› Der Gedanke verselbständigte sich.
    Mit einem Ruck zog die Hand den USB -Stick aus dem Rechner. Sekunden später tauchte auf dem Bildschirm eine friedliche,
Herbstlandschaft auf. Große Kürbisse lagen am Rand eines abgeernteten Maisfeldes. Wie täuschend unschuldig die Welt aussehen konnte.
    Der Entschluss stand fest: Der Chef des Rüstungsunternehmens würde zahlen, so oder so. Hasso von Germershausen sollte spüren, was er nicht sehen wollte. Und er würde mit jeder Faser seines Körpers wünschen, sich an diesem Tag anders entschieden zu haben.

[zur Inhaltsübersicht]
    34
    Hasso von Germershausen gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann griff er sich die Tasche mit den Golfschlägern.
    «Und du bist sicher, dass du keine Lust hast, mitzukommen?», fragte er beiläufig.
    Gesine von Germershausen ließ den Kulturteil der Wochenzeitung auf den Schoß sinken und sah ihn überrascht an. «Hasso, du weißt, dass ich mit Golf seit der letzten Feier abgeschlossen habe. Endgültig. Ich bin durch mit diesem Verein.»
    Sie ließ sich in das weiße Ledersofa zurückfallen und strich mit zwei Fingern der rechten Hand vorsichtig über den perfekt sitzenden

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