Schattenschmerz
Tisch. Er hatte sie sitzenlassen!
Wütend knüllte sie die Serviette zusammen. Nie hatte sie einen Mann mehr gewollt. Und auch er wollte sie. Daran hatte sie keinen Zweifel. Denn sie hatte auch ihre Macht über ihn gespürt. Und sie wusste, dass er sie heute Abend besuchen würde. An Franks Frau und Tochter verschwendete sie keinen Gedanken.
Chris Lorenz rief ihre Freundin auf dem Handy an und bat sie, ihr die Wohnung für die Nacht zu überlassen und bei ihrem Freund zu schlafen. Dann nippte sie an ihrem Martini, zog sich mit geübten Bewegungen die Lippen mit einem Lippenstift nach und ging hinaus. Sie musste einkaufen und sich vorbereiten. Die kommende Nacht sollte Frank Steenhoff nie wieder vergessen.
Bei dem Gedanken, wie ihr gemeinsamer Abend verlaufen würde, huschte ein verzerrtes Lächeln über ihr Gesicht. ‹Danach›, so schwor sich Chris Lorenz, ‹wird es andersherum sein: Dann wird er mir hinterherlaufen.›
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31
Sigrid Werlemann beobachtete vom Wohnzimmer aus den Briefschlitz an ihrer Haustür. Unruhig nippte sie an ihrer Kaffeetasse. Irgendwann musste der Zeitungsausträger doch kommen!
Wieder ging sie zur Tür und öffnete sie. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen. Der Fußweg zur Straße entlang der Reihenhäuser lag verlassen da. Vergeblich hielt sie nach einem Mann mit einem vollbeladenen Fahrrad Ausschau.
Seufzend schloss sie die Tür und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Sie hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Ob Hasso von Germershausen auf die Forderungen des Erpressers eingegangen und, wie gefordert, eine Nachricht in der Zeitung hinterlassen hatte?
‹Er muss reagieren›, dachte sie aufgewühlt. Nach allem, was am Montag im Park passiert war! Spätestens nachdem sich der Erpresser bei der Presseagentur gemeldet hatte, war doch klar, dass er es ernst meinte. Hasso von Germershausen musste etwas unternehmen. Er konnte doch nicht einfach zulassen, dass weitere Menschen verletzt oder getötet würden, nur um die eigene Firma aus negativen Schlagzeilen herauszuhalten.
Sigrid Werlemann setzte sich in ihren Ohrensessel, den sie von ihren Eltern geerbt hatte, und holte den Papagei aus dem Käfig. Das Tier beäugte sie aus halbgeöffneten Lidern. Während sie den Vogel mit den Fingern der rechten Hand am Hals kraulte, hielt sie ihn sanft in ihrer Linken. Der Papagei ließ es geschehen, ohne nach ihr zu hacken. Nach einigen Minuten öffnete sie die Tür des Käfigs und setzte das Tier zurück auf seine Holzstange.
Sie nahm ihre Tasse, aber der Kaffee war längst kalt geworden. Sigrid Werlemann stand auf, stellte sich an ihre Terrassentür und schaute auf die Terrakotta-Töpfe mit den verblühten Sommerpflanzen. Hasso von Germershausen war ein kühl berechnender Geschäftsmann, aber sie weigerte sich zu glauben, dass ihm weitere Opfer gleichgültig waren.
‹Er wird reagieren›, dachte sie verzweifelt. ‹Er muss reagieren.›
Sie fror und schlang ihren locker sitzenden Bademantel fester um sich. Im selben Moment hörte sie ein leises Klappern an der Tür.
Sofort lief sie in den Flur. Endlich! Die Zeitung war da.
Hastig schlug sie das Blatt auf und suchte nach der Rubrik «Finanzen». Mehrere Seiten und ein Werbeprospekt fielen zu Boden. Sigrid Werlemann schenkte ihnen keine Beachtung. Sie legte die dicke Wochenendausgabe des
Weser-Kuriers
auf ihren Küchentisch und überflog mit klopfendem Herzen die Anzeigen.
Doch sie fand nichts.
Wie konnte das sein? Sie schlug die Seite um. Die nächste Rubrik beschäftigte sich mit Immobilien. Also noch mal zurück. Sigrid Werlemann zwang sich, jede einzelne Anzeige unter «Finanzen» gründlich zu lesen. Wie hatte es der Erpresser formuliert? Sie schloss die Augen und rief sich den Text in Erinnerung, mit dem Hasso von Germershausen signalisieren sollte, dass er bereit war, zu zahlen: «Weltweit operierendes Finanzteam sucht neue Partner für die Entwicklung neuer Technologien in der 3. Welt …» Mit angehaltenem Atem studierte sie die Spalten.
Wenige Minuten später wusste sie, dass Hasso von Germershausen keine Nachricht für den Erpresser in der Zeitung hinterlassen hatte. Ihr Chef wollte nicht zahlen. Er wollte immer nur haben. Immer mehr haben. So, wie ihm auch eine Frau im Leben nicht reichte.
Als Sigrid Werlemann sich an diesem Morgen anzog, zitterte sie vor Wut.
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32
Petersen schaute erleichtert auf, als Frank Steenhoff ihr gemeinsames Büro
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