Schattenschmerz
Steenhoff und griff zum Telefon.
Er hatte Glück, der Leiter der KTU war sofort am Apparat.
«Welches Risiko geht ein Täter ein, der so ein Zeug mischt und einmal quer durch die Stadt transportiert?», fragte Steenhoff unvermittelt und schaltete sein Telefon für Petersen auf Mithören.
«Er riskiert sein Leben», erwiderte der Mann, ohne zu zögern.
«Kann man davon ausgehen, dass ihm dieses hohe Risiko bekannt ist?»
«Wer im Internet recherchiert, müsste davon wissen. Aber die Landeskriminalämter haben es bundesweit immer wieder mit Schülern und Studenten zu tun, die Sprengstoff zusammenmischen und die Gefahren völlig ausblenden.» Er schien einen Moment nachzudenken. «In Bayern haben die Kollegen vor ein paar Wochen ein Gartenhäuschen kontrolliert in die Luft gesprengt. Da war auch so ein Selbstlaborat drin. Und das hätte bei der geringsten Berührung in die Luft gehen können. Der halbwüchsige Enkel der Hausbesitzerin hatte damit experimentiert. Jetzt ist er wahrscheinlich nicht mehr Omas Liebling.» Der Leiter der KTU räusperte sich und fuhr fort: «Die meisten organischen Peroxide sind instabil und können durch Stoß, Wärme und Reibung zerfallen und heftig detonieren. Erinnerst du dich an die Sauerlandgruppe?»
«Diese radikal-islamistische Terrorgruppe?», fragte Steenhoff.
«Ja. Die hatten sich zuvor bei einem Großhändler für ihre geplanten Anschläge größere Mengen Wasserstoffperoxid besorgt.»
«Aha, und was ist mit der Sprengstoffmenge, die im Park explodiert ist?»
«Dazu braucht man keinen Großhändler.»
Steenhoff bedankte sich bei dem Mann und legte wieder auf. Er sah Petersen an.
«Womit haben wir es zu tun, Navideh?» Nach einer kurzen Pause gab er sich selbst die Antwort. «Ein Haufen intelligenter Attentäter, die keine Spuren hinterlassen, politisch motiviert sind und scheinbar die Welt verbessern wollen. Leute, die auf skrupellose Weise Angst als Druckmittel benutzen und die töten, ohne töten zu wollen.»
«Leute, bei denen Frauen an erster Stelle stehen», ergänzte sie.
«Du meinst, so eine Art feministische Attentäter?» Steenhoff runzelte die Stirn und seufzte. «Lass uns eine Liste zusammenstellen, wo man die Substanzen für HMTD in Bremen legal kaufen kann. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Klinken zu putzen und rumzutelefonieren.»
«Du glaubst, die haben sich das Zeug in Bremen besorgt?»
«Jeder macht irgendwann einen Fehler», sagte Steenhoff. In seiner Stimme schwang mehr Hoffnung als Überzeugung mit.
Das Telefon klingelte, und Steenhoff hob ab. Während er zuhörte, verdunkelte sich sein Gesicht.
«Wie konnte das passieren?», fragte er mit gepresster Stimme. «Er wurde doch bewacht!»
Der Anrufer erwiderte etwas, wurde aber von Steenhoff unterbrochen.
«Gebt eine Fahndung nach ihm raus», befahl Steenhoff knapp. Mit einem mühsam unterdrückten Fluch legte er auf, stand vom Schreibtisch auf und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Lange starrte er aus dem Fenster, als gebe es etwas auf dem ruhig daliegenden Parkplatz des Präsidiums zu entdecken.
«Was ist los, Frank?», erkundigte sich Petersen beunruhigt.
«Motjaba ist aus dem Krankenhaus abgehauen.»
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33
Der silberfarbene Stick glitt geräuschlos in die schmale Öffnung des Rechners.
Drei Mausklicks, und das erste Bild erschien auf dem Monitor: der letzte gemeinsame Tag. Das Auto und der Fahrer, mit dem sie nach Istalif fahren. Eine Kamelstute, die frisches Grün aus den oberen Ästen eines Baumes rupft, während ein wenige Wochen altes Fohlen in Richtung Kamera schaut. Ein Bauer, der auf einem dürren Pferd dem Betrachter entgegenreitet. Kinder am Straßenrand, schmutzige, kleine Gesichter, die lächeln, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt. Ein Mann im kragenlosen, knielangen Hemd mit dem traditionellen Pakol auf dem Kopf.
Die Hand auf der Maus begann zu zittern.
Dann der kleine Basar in Istalif. Die Töpferstraße mit den blauen Keramikschüsseln. Der Fleischer, der das zerlegte Rind am Haken vor seinem Geschäft zum Verkauf anbietet. Die armselige kleine Krankenstation, die sie beide gemeinsam am Rande von Istalif in den Ruinen eines Hauses aufgebaut hatten. Hoffnungsvolle Gesichter viel zu junger Mütter, die vor dem Eingang auf Hilfe warten.
Dann die Rückfahrt nach Kabul. Das letzte Bild, bevor die Welt unterging.
Sie waren in zwei Fahrzeugen unterwegs. Einer im ersten Wagen, der andere im zweiten. Nicht, weil sie Streit hatten,
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