Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
deinen Fahrradschlüssel?« Meine Stimme klang belegt, aber wenigstens fest. Mila blinzelte, dann holte sie einen Schlüssel aus der Hosentasche hervor, an dem ein pinkes Band befestigt war.
»Es ist das einzige Mountainbike, das vorne einen Drahtkorb anmontiert hat«, sagte sie leise und brachte tatsächlich ein Lächeln zustande, das auch ihre Augen erreichte.
»Ich kenne es. Du fährst seit dem letzten Sommer damit zur Schule.«
Mein Geständnis ließ Rufus noch ungeduldiger herumzappeln, während Chris und seine Freundin zu hoffen schienen, dass noch etwas weit Interessanteres passieren würde. Bjarne hatte sich beleidigt mit einer Zigarette zwischen den Lippen verzogen, stand aber immer noch nah genug, damit ihm nichts entging. Also schwieg ich, obwohl nicht zu übersehen war, dass Mila sich mehr von mir erhoffte. Ich würde sie am Abend anrufen, ihr sagen, dass ich das Rad morgen mit zum Strand bringen würde. Vielleicht würde ich auch den Mut aufbringen und nachfragen, was sie nun wirklich so erschreckt hatte. Oder wir würden einfach nur reden. Dann waren jedenfalls keine neugierigen Ohren in der Nähe und auch kein eifersüchtiger Bruder. Und ich würde mich bis dahin auch wieder besser unter Kontrolle haben.
Ich ließ zu, dass Rufus Mila wegführte, bevor ich mich richtig verabschieden konnte. Es kostete mich viel Kraft, ihnen nicht hinterherzuschauen. Stattdessen spielte ich mit dem Fahrradschlüssel in meiner Hand. Dabei fiel mein Blick auf das angeknüpfte Band. Tagträumerin stand da in Blockbuchstaben drauf. Doch Mila war keine Tagträumerin, dafür erfasste sie ihre Umwelt viel zu klar. Dieses Talent wurde im Augenblick noch überschattet, weil sich ihre Wahrnehmung an einzelnen Dingen, die ihr besonders aufregend erschienen, festhängte. Dadurch mochte sie vielleicht auf andere verträumt wirken, aber ich wusste es besser. In dieser Hinsicht waren wir uns nämlich ähnlich: Wir konnten beide Dinge erkennen, die andere nicht bemerkten.
Chris riss mich aus meinen Gedanken, indem er mit den Fingerknöcheln fest gegen meinen Oberarm boxte.
»Ich bin echt schockiert, mein Freund. Du stehst auf Rufus’ kleine Schwester. Mutig, sehr mutig.«
»Was meinst du mit mutig ?«
Das dreiste Grinsen schien sich regelrecht in Chris’ Gesicht festgesetzt zu haben. Er war einer von diesen Geradeaus-Typen und normalerweise konnte ich seine Nähe auch ganz gut ab, aber in der letzten Zeit ging er mir immer häufiger auf die Nerven. Vermutlich lag es am Einfluss von Jette, unserer Jahrgangskönigin mit der wallenden blonden Mähne, dass er nicht mehr nur vorlaut, sondern regelrecht anmaßend war.
»Ach, komm. Nun tu doch nicht so blöd. Rufus liebt seine kleine Schwester abgöttisch, die kommt bei ihm noch vor dir, auch wenn er das nie zugeben würde. Der mag zwar die coole Sau spielen, aber er hängt auch freiwillig mit Mila ab. Und was kann an der für einen wie Rufus wohl so spannend sein, an diesem Schöngeist? Ich sage dir, da steckt heilige, reine Bruderliebe hinter. Und nun kommst du und willst dir den Unschuldsengel unter den Nagel reißen. Irgendwelche dreckigen Sachen mit ihr anstellen. Soll ich dir mal was verraten? Wenn Rufus vorhin mit mir zusammen auf den Innenhof gekommen wäre und gesehen hätte, wie du Mila so ganz unbrüderlich an dich gedrückt hast, dann wäre er bestimmt einem Blutrausch verfallen.«
Ich spielte konzentriert mit dem Schlüssel, um nicht in Versuchung zu geraten, etwas gegen Chris’ Grinsen zu unternehmen, das zweifelsohne weiterhin da war. »Und da bist du von ganz alleine draufgekommen oder hat dir deine Freundin dabei geholfen?«
»Als wenn man ein Genie sein müsste, um das zu kapieren.« Dem Affront konnte Jette nicht widerstehen. Ich registrierte, wie sie eine Hand gegen die Hüfte stemmte. Ihre überhebliche Art war nie ganz nach meinem Geschmack gewesen. Sie passte zu Chris, auch wenn sie als Team nicht gerade sympathisch wirkten. Jetzt kochte es in Jette vor unterdrücktem Zorn, aber sie weigerte sich auszusprechen, was ihr wirklich auf der Seele lag. Das stachelte mich an.
»Rufus sollte eigentlich der Letzte sein, der es mir übelnimmt, wenn ich mich für Mila interessiere. Schließlich liegt er mir schon seit Ewigkeiten in den Ohren, dass ihm meine zurückhaltende Art Mädchen gegenüber auf die Nerven geht. Dass es mal langsam an der Zeit wäre, dass ich …«
Weiter kam ich nicht, denn Jette unterbrach mich, einen Tick zu laut und zu schrill: »Ist ja
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