Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
bewusst wurden. Ich hatte nämlich keineswegs vor, meine Schicht sausen zu lassen. Ich brauchte das Geld. »Sehen Sie mal, bis Sie das Fahrrad auf die Ladefläche gestemmt haben, bin ich schon lange an der Tankstelle und auch schon wieder weg. Also, tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Warum hattest du überhaupt die Augen geschlossen? Dachtest du, du bist unverwundbar? Oder gar ein Vogel? Das sah schon wunderlich aus, wie du da angeflogen kamst. So, als würdest du tatsächlich gleich abheben.«
Obwohl ich mich nur äußerst ungern unhöflich benahm, drehte ich mich um, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und humpelte zum Mountainbike hinüber. Als ich mich noch einmal umdrehte, um dem Mann zum Abschied zuzuwinken, stand er da und starrte mich nachdenklich an. Als hätte er die Bestürzung über den gerade noch einmal glimpflich verlaufenen Unfall vergessen und würde stattdessen ein exotisches Tier beobachten, von dem er sich nicht sicher war, ob er es wirklich sah. Und dieses exotische Tier war ich. Ich kannte diesen Blick bestens, nur, dass ich ihn heute besonders gut nachvollziehen konnte. Ich hatte mich nicht nur seltsam verhalten, sondern mich für einen kurzen Moment wirklich so gefühlt, als wäre ich nicht an diese Welt gebunden. Als wäre ich kurz davor abzuheben.
9
Liebesentzug
Er konnte sein Glück noch immer nicht richtig fassen: Seine Pforte war tatsächlich für einen Augenblick geöffnet worden! Nur ein winziges Stück, aber doch genug, um durch sie hindurchzugreifen, und sich die nötige Kraft einzuverleiben, damit er sich den Fängen des Schlafes entwinden konnte. Auch dieses Mal würde es nur für eine kurze Dauer sein, das war ihm klar, trotzdem genoss er es. Wachsein bedeutete, Pläne schmieden und in die Träume anderer willentlich eindringen zu können. Die Zeit mochte weiterhin gegen ihn arbeiten, aber er verspürte zum ersten Mal seit Langem wieder die Hoffnung, sie doch noch besiegen zu können. Erneut tastete er seine Erinnerung ab, um dem Menschenkind, das durch den Anblick des Zeichens seine Pforte geöffnet hatte, erneut nah zu sein, auch wenn die flüchtige Berührung nur eine Ahnung von ihr hinterlassen hatte. Ein Mädchen, fast schon eine junge Frau, gesegnet mit der seltenen Gabe, sich mit Haut und Haaren auf etwas einzulassen. Ihre feine, fast übersteigerte Wahrnehmung war ein Geschenk. Ein Geschenk, das er an sich reißen würde, sobald sich erneut die Möglichkeit dazu bot.
Mila
Am Abend lag ich bäuchlings auf meinem Bett, das Handy in Griffweite, und malte wüste Kreise auf meinen Zeichenblock. Ich konnte mich einfach auf kein ordentliches Motiv konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab und trieben auf diese grauenhafte Vision zu, die ich einfach nur vergessen wollte. Außerdem stellte sich mir immer wieder die Frage, wie es Sam gelungen war, mich aus diesem Albtraum zu befreien. Denn, so obskur es klingen mochte, ich war mir sicher, dass ich es nicht aus eigner Kraft hätte schaffen können. Ob es an dem Strahlen lag, das Sam umgab? Das mochte ich nicht glauben, weil es zwangsläufig bedeutet hätte, dass eine Verbindung zwischen Sams Aura und der beängstigenden Vision bestand, die mich beim Anblick der Narben auf seinem Unterarm überkommen hatte. Dieser Gedanke gefiel mir gar nicht. All das war so verwirrend, dass ich mich Sam am liebsten anvertraut hätte. Nur, dass er offensichtlich nicht ahnte, was da mit mir passiert war, genauso wenig, wie ihm bewusst gewesen war, dass er mich gerettet hatte.
Gequält zerknüllte ich das oberste Blatt Papier meines Blockes und pfefferte es zu Boden. Sicherlich sponn ich mir da etwas zurecht! Ich hatte vor lauter Aufregung die Nerven verloren. Es war reiner Stress gewesen, nicht mehr, sagte ich mir fest, während ich tief Luft holte und voller guter Vorsätze, nicht eine Sekunde länger darüber nachzudenken, den Stift ansetzte. Was sollte ich malen?
Erneut flackerte die Erinnerung an die Vision vor meinem inneren Auge auf: Hell und Dunkel im Kampf verwoben, wie ein Gewitterhimmel in Schwarz-Weiß. Ein Sog, der mich mitreißen wollte. Ich seufzte tief. Nein, ich würde mich von diesen Bildern nicht noch einmal locken lassen. Sie hatten mir schon genug Schwierigkeiten eingebracht. Mit Rufus zum Beispiel, der auf der Rückfahrt extrem maulig und keine Spur fürsorglich gewesen war. Als er in unserer Hauseinfahrt mit laufendem Motor darauf
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