Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
nicht so, als hättest du bei uns an der Schule nicht die große Auswahl. Es sind doch alle hinter dir her. Und von den ganzen Frauen, die du haben könntest, suchst du dir ausgerechnet diese Mila aus? Die mag ja ein ganz süßes Mädchen sein, aber du stehst doch wohl nicht ernsthaft auf Unschuldslämmer. Wie alt ist die, doch wohl höchstens fünfzehn?« Ich konnte Jettes Gesicht deutlich vor mir sehen, obgleich ich den gepflasterten Boden begutachtete. Die Nasenflügel angespannt, die Mundwinkel herabhängend, während sich die Lippen in zu hohem Tempo bewegten. »Gerade von dir hätte ich mehr erwartet. Hätte gedacht, du suchst dir eine Frau, die zu dir passt, jemand, der dir hilft, endlich das aus dir zu machen, was in dir steckt.«
»Jemand wie du?« Ich blickte nur kurz auf, um Chris zum Abschied zuzunicken. Dem war das Grinsen nun doch vergangen. Als ich mich wegdrehte, hörte ich Jette schnaufen. Es sollte wohl verächtlich rüberkommen, klang aber eher so, als sei ihr gerade bewusst geworden, dass sie zu viel ausgeplaudert hatte. Weder sie noch ich hatten ihre vielen, teilweise ziemlich zudringlichen Offerten mir gegenüber vergessen. Doch ich hatte nie Lust gehabt, Jettes König zu spielen, das überließ ich lieber Chris.
Am Fahrradständer brauchte ich nicht lange, um Milas Fahrrad ausfindig zu machen. Es war ein ausgesprochen sportliches Gerät, etwas zu sportlich für Mila, der es beim Handball regelmäßig nicht gelang, schnelle Bälle richtig abzuschätzen und die deshalb schon das eine oder andere Veilchen mit nach Hause genommen hatte. Sie sah zwar immer großartig aus, wenn sie morgens kurz vor knapp mit dem Bike zur Schule angesaust kam, aber ein gebrauchtes Hollandrad hätte besser zu ihrem Typ gepasst. Ich konnte mir gut vorstellen, dass ihr Vater es ausgesucht hatte, vielleicht ein Geburtstagsgeschenk, das mehr nach seinem als nach ihrem Geschmack gewesen war. Und nun bestrafte sie ihn mit einem Drahtkorb, an dem bunte Bänder flatterten. Nun, wenigstens war das Bike 1a in Schuss, wie ich auf dem Weg zur Arbeit feststellte. Bei der ersten roten Ampel machte ich fast einen Abgang über das Lenkrad, als ich die Handbremsen betätigte.
Die Tankstelle, an der ich meinen Unterhalt zusammenjobbte, lag am Stadtrand landeinwärts, eine langweilige Gegend, in der ich mich nicht besonders wohlfühlte. Trotzdem war der Job okay, denn in einen Supermarkt bekamen mich keine zehn Pferde und die Aushilfsjobs am Hafen waren zwar verlockend, aber dort trieb sich zu jeder Tag- und Nachtzeit mein Vater herum. Der Besitzer der Tankstelle, Knut Jahnson, hatte keine besonders große Lust, seine Lebenszeit in der zusammengeschusterten Verkaufshütte zu verschwenden, sodass ich am Nachmittag und den Wochenenden locker Stunden zusammenbekam und gleichzeitig für die Schule lernen konnte, wenn grade mal eine Flaute herrschte. Außerdem kümmerte es ihn auch nicht, wenn sich gelegentlich einige meiner Freunde auf der Tankstelle herumdrückten, solange ich meine Arbeit erledigte und freiwillig den Laden sauber hielt. Das machte Jahnson nämlich auch nur ungern.
Obwohl ich dank Milas Mountainbike gut in der Zeit lag, trat ich so kräftig in die Pedale, dass meine Oberschenkelmuskeln vor Anstrengung zu pochen begannen. Aber das störte mich nicht. Die Geschwindigkeit gefiel mir, sie befriedigte eine Sehnsucht, die ich ansonsten strikt verdrängte. Ich mochte den Fahrtwind, der mir in den Augen brannte und an meiner Kleidung zerrte. Die Welt, die an mir mit all ihren Eindrücken vorbeizog, wie ein Stück Film, das zu schnell abgespielt wurde. Das war doch etwas ganz anderes, als im muffigen Bus zu sitzen, der schneckengleich um die Ecken kroch.
Auf der letzten Strecke zur Tankstelle musste ich einen Hügel hinauf, ehe er sich in eine gerade, steil abfallende Bahn verwandelte. Ich hob mich aus dem Sattel und ignorierte den Schmerz in meinen Beinen, als ich das Bike in raschem Tempo über die Anhöhe zwang und die Geschwindigkeit auch nicht drosselte, als es bereits bergab schoss. Dann schloss ich die Augen und nahm nur den freien Fall wahr. Es war wie ein Rausch und fühlte sich echt an, viel echter, als wenn ich mit beiden Beinen auf dem Boden stand.
Ein ohrenbetäubendes Hupen riss mich aus meiner Selbstversunkenheit. Direkt vor mir tauchte die Kreuzung auf. Die Seitenfenster eines Kombis blitzten auf. Mit einem Ruck riss ich die Bremsen an und ließ mich zur Seite gleiten, um nicht über das Lenkrad geschleudert zu
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