Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
es so aus, als würde er sein festes Vorhaben, meinem Vater keinen Grund zur Beschwerde zu liefern, vergessen und mich erneut küssen. Stattdessen nahm er meine Hand. »Einfach unwiderstehlich«, sagte er, als wir losgingen, und ich war mir nicht sicher, ob die Worte für mich bestimmt waren oder nicht.
Als wir das Plateau am Strand erreichten, herrschte bereits größtes Gedränge. Ich schmiegte mich an Sam, glücklich und überdreht, zugleich aber ein wenig traurig, weil wir uns schon bald würden trennen müssen. Immer wieder schauten wir uns an, obwohl Sam eigentlich achtgeben musste, dass ihn niemand anrempelte. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass wir das überfüllte Plateau unbeschadet hinter uns ließen, als hätte uns ein unsichtbarer Schutzwall umgeben.
Doch kaum erklommen wir die ersten Stufen hoch zur Promenade, machte Rufus uns aus, der vor einer Getränkebude stand. Ungeniert, fast ein wenig drohend zeigte er mit dem Finger auf uns. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sich seine Stimmung im Laufe des Tages nicht wirklich verbessert. Sein Lockenhaar stand wirr zu Berge und irgendwo in dem Wust blitzte eine Sonnenbrille auf. Seine Augen waren dank der schlaflosen Nacht tief umschattet und seine Lippen geschwollen. Auf seinem T-Shirt prangte ein großer Farbfleck, den er sich heute Morgen auf dem Segelschiff zugezogen hatte, und um die Hüften hatte er sich seine Windjacke gebunden. Trotzdem schmachtete ihn die junge Verkäuferin, die ihm gerade eine Flasche Bier reichte, an. Dabei gab es hier wirklich mehr als genug Jungen, die nicht aussahen wie etwas, das die Katze auf dem Türvorleger zurückgelassen hatte. Vielleicht hielt sie Rufus ja für einen Rockstar.
»Ist es zu spät, so zu tun, als hätten wir ihn nicht gesehen? Wir könnten uns hinter dem Denkmal verstecken.« Schließlich gab es Grenzen für geschwisterliche Liebe.
»Zu spät«, erwiderte Sam halb belustigt, halb ernst.
»Na, seid ihr beiden wieder bei der Händchenhalt-Nummer angekommen? Niedlich«, eröffnete Rufus auch sogleich das Feuer. »Allerdings dürfte Daniel hier gleich auftauchen, also solltet ihr euch lieber züchtig benehmen. Sonst gibt’s was auf die Finger.«
»Hältst du das für eine gute Idee?« Sam deutete auf die Bierflasche in Rufus’ Hand. »Du siehst aus, als hättest du die Ladung von gestern noch nicht verdaut.«
Rufus zog angriffslustig die Brauen zusammen und ich hätte mein Taschengeld darauf verwettet, dass er gleich zu einer Widerrede ansetzen würde, die sich gewaschen hatte. Doch da entspannten sich seine Gesichtszüge auch schon wieder und er drückte die Flasche einem Beachball-Fan in die Hand, der gerade an ihm vorbeiging. »Halt mal.«
»Danke auch«, sagte der junge Typ und sah zu, dass er samt Gratisdrink wegkam.
»Was für ein Scheißtag«, begann Rufus sich zu beschweren. »Ich musste mein Handy ausstellen, weil Julia mich unentwegt angebimmelt hat. Dabei wollte ich mich mit Chris zusammentelefonieren. Versuch in diesem Gewühle mal jemanden einfach so ausfindig zu machen. Keine Chance.«
Ich entdeckte neben der unbekannten Sonnenbrille einen Seegrashalm in Rufus’ Locken. »Sag mal, hast du dich irgendwo in den Dünen ausgeschlafen?«
Rufus tastete, bis er den Halm fand, und schaute ihn irritiert an. »So in der Art.«
Neben mir stöhnte Sam genervt auf. Da erst wurde mir klar, wie Rufus den Tag rumgebracht hatte.
»Ich sollte dich echt bei Mom verpetzen, du triebgesteuertes …«
»Nun mach dich mal locker«, unterbrach Rufus mich eindringlich. »Mittlerweile dürfest du ja wohl auch herausgefunden haben, wie das so mit den Trieben ist: keine einfache Sache.«
»Ich bin nicht diejenige mit Seegras im Haar!«
Rufus setzte zu einer Entgegnung an, aber nach einem Blick auf Sam lenkte er ein. »Okay, Frieden?«
Während ich abfällig schnaufte, nickte Sam und wir gingen gemeinsam zum Denkmal hinüber. Es zeigte den heiligen Martin, den Arm weit vorgestreckt, als wolle er das Meer mit der bloßen Hand zurückdrängen. Anscheinend verehrte unser Küstenort den richtigen Heiligen, denn obwohl er das Wasser regelrecht einzuladen schien, war er noch niemals überflutet worden. Als würde sich der heilige Martin, der ja bekannt war für seine Disziplin und sein unermüdliches Pflichtbewusstsein, dagegenstemmen.
Das Denkmal lag leicht erhöht, sodass wir einen guten Blick auf das Geschehen hatten. Als hätte ein Magnet die Menschen aus allen Ecken und Winkeln
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