Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
zu meiner Freiheit war mein Geheimnis. Nicht etwa, weil ich Kastor misstraute, sondern, weil es zu intim war. Der Schlüssel war nämlich nichts anderes als ein Liebesgeständnis an Mila gewesen. Allein bei der Erinnerung jagte mir das Blut durch die Adern wie ein reißender Sturzbach.
Nach und nach hatte der Schattenkokon immer weitere Facetten meines Ichs verdunkelt: der wunderbare Augenblick, in dem meine Mutter mir als Kind übers Haar gestrichen hat … der Glücksmoment, als ich meinen Meister beim Thaiboxen unverhofft von den Füßen geholt hatte … der Geschmack von Erdbeereis. Für immer vor mir verborgen, geraubt, weil ich unfähig war, mich zu befreien. Und dann hatte der Schatten sich dem Gefühl angenähert, das Mila mir gab, die Verbindung, die zwischen uns beiden bestand, meiner tiefen Zuneigung zu ihr. Da hatte sich endlich Widerstand in mir geregt und mich an das Versprechen erinnert, das ich Mila gegeben hatte. Dass ich zu ihr zurückkommen würde. Immer.
Ich wusste nicht, was ich getan hatte, außer dass ich den unumstößlichen Entschluss gefasst hatte, an diesem Versprechen festzuhalten. Allem Anschein nach war dieses Dagegenhalten das Mittel gewesen, dem Schatten beizukommen. Der Kokon riss ein, zuerst waren nur feine Risse sichtbar gewesen, dann war er zerfasert wie ein Spinnennetz, das von einem gleißenden Feuer aufgezehrt wurde. Plötzlich waren die Zeichen auf meiner Haut wieder bloß Narben und ich befand mich im tosenden Blau des Meeres, kaum genug bei Verstand, um einen Weg an die Oberfläche zu finden. Ich tauchte auf und im gleichen Moment, in dem ich nach Luft schnappte, öffnete ich zum ersten Mal bewusst meine Schwingen und stieß in den Himmel empor. Es war genauso einfach, wie meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Unter mir überschlugen sich die Wellen, doch ich traute dem Locken des Wassers nicht länger. Denn einer Sache war ich mir sicher: Wenn ich erneut den Meeresspiegel durchbrach, würde es nicht noch einmal gut ausgehen. Ich brauchte mich ihm nämlich nur zu nähern, dann begannen die Narben einzureißen und ich konnte den lauernden Schatten in den offenen Wunden erkennen. Bereit, sofort wieder nach mir zu greifen.
»Der Kokon wollte mir eine bestimmte Erinnerung stehlen, und das konnte ich nicht zulassen«, antwortete ich Kastor ausweichend. »Irgendwie hat mein innerer Widerstand Löcher in den Kokon geschlagen, so lange, bis er zerriss.«
Nachdenklich rieb Kastor sich das Kinn, während das Grau seiner Augen im Morgenlicht ungewöhnlich leblos wirkte, obwohl in der Sphäre alle Farben um ein Vielfaches lebendiger waren. Zu Anfang war es mir sogar so vorgekommen, als würde ich zum ersten Mal das komplette Farbspektrum sehen, während zuvor alles nur in langweiligen Grundfarben gehalten gewesen war.
Langsam wandelte sich Kastors grüblerische Miene in ein Grinsen, das ihn erstaunlich jung aussehen ließ. »Sieht ganz danach aus, als hättest du meine Wachablöse zum richtigen Zeitpunkt eingeläutet. So viele Rätsel auf einmal hat es schon lange nicht mehr in der Sphäre gegeben, dafür ist sie ein viel zu ruhiger Ort geworden.«
»Was meinst du mit Wachablöse?«
Mit einer ruhigen, fast andächtigen Bewegung öffnete Kastor seine Schwingen. »Du hast doch am eigenen Leib erfahren, wie leicht es einem im Weißen Licht fällt, sich selbst und seine Vergangenheit zu vergessen und wieder so rein wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu sein. Die Magie, die die Schattenschwingen in früheren Tagen eingesetzt haben und die den Süden der Sphäre zerstört hat, wirkt dort immer noch nach. Das Weiße Licht ist ein Platz, an dem man für immer schlafen und vergessen kann. Man könnte auch sagen, dass es das beste Gefängnis ist, das die Sphäre zu bieten hat. Aber in dieses Geheimnis sollte dich jemand anderes einführen.« Ich wollte trotzdem neugierig nachhaken, doch Kastor blockte ab. »Für diesen Morgen haben wir wirklich genug geredet. Man kann die Sphäre nicht mithilfe von ein paar Sätzen begreifen wollen, dazu ist mehr vonnöten. Außerdem brauche ich jetzt wieder den Wind unter meinen Schwingen. Alles andere wird sich finden.«
Ohne meine Reaktion abzuwarten, stieg er in die Luft. Beim Anblick seines Fluges begannen meine eingezogenen Schwingen zu kribbeln, als verspürten sie den Drang auf einen Wettflug. Eher unlustig öffnete ich sie und folgte Kastor, der mit gleichmäßigen Schlägen über den Himmel zog. Allein diese »paar Sätze« von ihm hatten
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