Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Wendeltreppe hinab. Ich hatte keinen wirklichen Plan, aber es musste sich etwas tun, und außer mir war niemand da, der die Dinge in die Hand nehmen konnte. Lena konnte froh sein, dass Nikolai sie weitgehend ignorierte. Sie war für ihn eine noch ungeeignetere Gegnerin als ich.
Am Ende der Treppe musste ich meinen ganzen Mut zusammennehmen, um weiterzugehen. Die Halle lag im Dunklen, viele Meter unter mir war lediglich die ewige Bewegung des Meeres zu erahnen. Einzig die Bernsteinkette, an die Lena gefesselt war, schimmerte blass und bewies, dass es hier tatsächlich festen Grund und nicht bloß gähnende Leere gab. Wie eine Schlange wand die Kette sich, nachdem Nikolai sie widerwillig verlängert hatte, damit Lena mir überallhin folgen konnte.
Die Bernsteinspur fest im Blick, setzte ich meine Füße einen vor den anderen und durchquerte auf diese Weise die Halle. Als ich an der Befestigung der Kette angekommen war, warf ich einen Blick in die Richtung, in der ich die Brüstung vermutete. Hinter dieser Brüstung gab es nur den weiten Himmel, aber ich konnte mich nicht in ihn stürzen. Mich hielt zwar keine Kette zurück, dafür aber meine beste Freundin, die an diesen Ort gebunden war. Ich hatte keine Ahnung, ob Nikolai von Anfang an geplant hatte, Lena zu entführen. So oder so war es auf jeden Fall ein genialer Schachzug gewesen, damit ich meine Flucht vom letzten Mal nicht wiederholte.
Zwar bot die Brüstung mir nicht den ersehnten Weg in die Freiheit, aber sie zog mich an. Ich sehnte mich danach, den Wind auf meinen Wangen zu spüren und den Salzduft des Meeres einzuatmen, der mich an Sam erinnerte. Das ausgeblichene Blond seiner Haare, der Sonnenton auf seinen Schultern, bedeckt von einer hauchfeinen weißen Schicht aus getrocknetem Meerwasser. Die Kristalle auf seiner Haut, die stets eine Explosion auf meiner Zunge auslösten ….
Nur noch ein paar Schritte bis zur Brüstung. In letzter Sekunde bemerkte ich ein Hindernis, gegen das ich fast mit meinem Fuß gestoßen wäre.
Es war Nikolai, der in eine Decke gewickelt schlief.
Ich nahm es als Zeichen.
Darauf bedacht, nur keinen Laut zu verursachen, umrundete ich ihn und betrachtete sein Gesicht. Seine Aura war nicht mehr als ein sanftes Leuchten, aber es reichte aus, um seine Züge zu erkennen. Er schlief tief und fest. Wenn ich meine Fingerspitzen auf seine Lider legte, würde ich seine sich bewegenden Augäpfel spüren können.
Nikolai träumte – und im Gegensatz zu Lena und mir schlug er weder panisch um sich, noch wimmerte er, weil sein Unbewusstsein randvoll mit schrecklichen Erlebnissen angefüllt war. Ich hasste ihn für viele Dinge, aber für seinen ruhigen Schlaf wünschte ich ihm die Pest an den Hals. Dieser Hurensohn hatte nichts anderes als seine Macht im Sinn, und um die zu erlangen, war es ihm gleichgültig, was er Sam, Lena, mir und vielen anderen auf dem Weg dorthin antat. Es war ihm genauso gleichgültig, wie es ihm Shirin und die Schattenschwingen in seinem anderen Leben gewesen waren. Für Nikolai existierten wir lediglich als Randerscheinungen, als Spielfiguren, deren einziger Lebenszweck darin bestand, ihn seinem Ziel näher zu bringen.
»In dem Augenblick, in dem du aufhörst zu existieren, werde ich endlich wieder frei durchatmen können«, flüsterte ich. »Wir alle.«
Dann umkreisten meine Gedanken ein Thema, dem ich mich noch nie zuvor angenähert hatte, und die Kälte, mit der ich es tat, erschreckte mich. Wie tötete man eine Schattenschwinge, wenn einem nur die eigenen Hände zur Verfügung standen und die eine davon sogar beeinträchtigt war? Ich fragte mich nicht, ob ich es wirklich über mich bringen würde, Nikolai zu töten. Mir kam kein Zweifel daran, dass ich es tun würde, sobald ich wusste wie. Nikolai musste sterben, ansonsten würden viele andere ihm zum Opfer fallen. Mit einem Mal begriff ich, warum Sam in der Lage gewesen war, ohne Reue zu töten: Es gab eine Grenze, und wenn man über sie hinausgetrieben wurde, setzte der Überlebensinstinkt ein, der die Frage, ob ich eine solche Tat wirklich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, nichtig machte. Sogar die Tatsache, dass er es war, der Lena und mich in den Wolken hielt, war vergessen. Der Wille, zu überleben, hatte sowohl derlei praktische als auch moralische Erwägungen ausgeschaltet. Dafür ist später Zeit, raunte er mir zu. Wenn du lebst und er tot ist. Leise wie eine Katze auf Beutezug schlich ich zur Bernsteinkette hinüber und wog sie in meinen
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