Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
der unruhigen Lena den Rücken streichelte, gestand ich mir ein, dass eine Sache bei uns beiden absolut identisch war: Seit unserer Verschleppung litten wir beide unentwegt. Denn egal ob in wachem oder schlafendem Zustand, wir wurden stets von unserer Furcht vor Nikolai heimgesucht. Daran hatten auch das eigene Zimmer und mein wunderschönes Kleid nichts geändert. Vor allem das Kleid hatte für Unruhe zwischen Lena und mir gesorgt.
Nachdem ich es ihr begeistert vorgeführt hatte, war ihr erster Kommentar gewesen: »Ein Kleid aus der Aura dieses Dreckskerls … dann lieber nackt.«
»Es ist mein Kleid«, hatte ich empört dagegengehalten. »Es sieht genau so aus, wie ich es mir immer gewünscht habe.«
»Mag ja sein, aber das ändert nichts daran, dass du dich in ein Stück Nikolai gewickelt hast. Das ist eklig.«
»Ist es nicht! Schattenschwingen erschaffen nun einmal Dinge aus ihrer Aura. Was du an mir siehst, ist ein Kleid. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Bist du dir da wirklich sicher?«
War ich mir in diesem Moment keineswegs, nur wollte ich das Lena gegenüber nicht eingestehen. Ansonsten hätte sie alles darangesetzt, mich zu überreden, das Kleid abzulegen. Allein die Vorstellung war verstörend. Es gehörte doch zu mir …
Abrupt setzte ich mich im Bett auf.
Es war mein Kleid!
Zugegeben, ich hatte es mit Hilfe von Nikolais Aura gesponnen, aber es war ein Teil meiner Persönlichkeit. Mehr als das, ich hatte ein Stück von mir in dieses Gewand hineingewebt. Nichts Großartiges, nur ein winziges Stückchen meiner Freude am Malen, dem Bedürfnis, die Welt abzubilden … eben auf die Weise, wie ich sie sah: ein wenig verzaubert. Genau so sah das Kleid aus: Als gehörte es einer Märchenfigur, einer Elbin, die durch den nächtlichen Wald spazierte, oder einer Dame im Turmzimmer, auf die man nicht mehr als einen flüchtigen Blick erhascht. Ich besaß die Gabe, unter Einsatz der Schattenschwingen-Aura etwas zu gestalten, und darauf war ich stolz. Schließlich war es der Beweis, dass wir Menschen den Schattenschwingen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, sondern zu ebenbürtigen Partnern wurden, wenn man uns nur ließ. Wie in der Geschichte über Sora und Mael, die Sam mir erzählt hatte.
Allerdings ließ sich nicht leugnen, dass Nikolai mich in keinerlei Hinsicht als gleichwertig ansah – auch wenn unsere Beziehung sich wandelte. Ich merkte zwar, dass ich ihm mit jeder Berührung wichtiger wurde, aber beim Blick in Shirins Vergangenheit hatte ich seine Vorstellung von einer perfekten Partnerin zur Genüge kennengelernt. Vollkommene Selbstaufgabe und Unterordnung unter seine Ziele, danach stand ihm der Sinn. Allein bei dem Gedanken daran krümmte ich mich. Genau das stand mir bevor, falls nicht bald ein Wunder geschah. Schon jetzt nahm ich den Widerhall von Nikolais Seele in mir wahr. Nicht mehr lange, und er würde alles übertönen.
Unruhe ergriff Besitz von mir, und trotzdem wagte ich es nicht, mich zu rühren, aus Angst, Lena aus dem Schlaf zu holen, dank dessen sie sich gerade erst wieder entspannte. Hoffentlich träumte sie von etwas Schönem, einer genialen Premiere ihrer Theatergruppe oder von einem Ausritt mit ihrem Pferd Artemis. Während ich ihrem gleichmäßigen Atem lauschte, kam mir eine Idee. Vielleicht konnte ich mich Nikolai nicht entziehen, aber möglicherweise konnte ich einen Teil meiner selbst rechtzeitig in Sicherheit bringen, indem ich ihm eine Form verlieh. Schließlich hatte ich das schon einmal getan.
Mucksmäuschenstill setzte ich mich auf und langte nach dem Saum meines Kleides. In der Schwärze der Nacht ertastete ich eine Unebenheit, einen Faden, und löste ihn so weit, bis er auf meinem Handteller lag. Dafür brauchte ich eine Weile, weil meine linke Hand ungebrochen schmerzte. In der Regel ignorierte ich das ungewohnte Fehlen meines Ringfingers und das Pochen der Narbe. Nicht etwa weil ich mich weigerte, mich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen, sondern weil ich meinen verlorenen Finger nicht als Verlust ansah. Es war meine einzige Chance gewesen, Sam ins Leben zurückzuholen, darüber konnte ich nicht unglücklich sein.
Während ich den Faden hielt, verlor er seine Form und wurde zu einem kühl leuchtenden Band, das einem Lichtstrahl glich. Ich wischte mit der flachen Hand drüber, sodass es sich ausbreitete und als ein Stück Papier verfestigte.
Papier hatte für mich schon immer über eine ganz eigene Magie verfügt dank der unzähligen
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