Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
einer einzigen Stelle. Die Wolken verdunkelten sich, bauschten sich auf wie vom Sturm erfasst, während sich in ihrer Mitte ein schwarzes Auge abzeichnete, aus dem plötzlich eine Gestalt mit gewitterdunklen Schwingen hervortrat.
»Wer zur Hölle ist das?«
Ich stand mit offenem Mund neben Lena und betrachtete die unbekannte Schattenschwinge, die in rasantem Flug auf den gläsernen Käfig zuhielt. Es war ein Mädchen, höchstens ein oder zwei Jahre älter als wir, ihre Miene voller Entschlossenheit, ihre rote Mähne bauschte im Wind. Bei ihrem Anblick hörte ich plötzlich Sams Worte, mit denen er mir von dieser Schattenschwinge, die ihn durchaus beeindruckt hatte, erzählte. Seine Stimme klang ganz klar in mir und ließ mich meine Verwirrung vergessen. Es mochte nur die Erinnerung an seine Stimme sein, aber sie bewirkte, dass ich wieder wusste, wer ich war. Vielleicht nur für einige wenige Augenblicke, aber ich würde etwas daraus machen, solange es anhielt.
»Das ist Solveig«, erklärte ich Lena. »Sam hat mir von ihr erzählt. Sie gehört zu den Schattenschwingen, die erst nach dem Krieg in die Sphäre gekommen sind und denen es nicht schmeckt, dass die Alten sie all die Jahre über in Unwissenheit über ihre Fähigkeiten gehalten haben. Ihre Pforte sind die Wolken, sie hat versucht, eine feste und für alle sichtbare Verbindung zwischen unseren Welten aufzubauen. Asami hat sie wohl ziemlich rüde von diesem Plan abgebracht.«
»Dieser Asami weiß, wie man sich Freunde macht. Ich würde zu gern mal einen Blick auf den Knaben erhaschen, der dafür sorgt, dass sich so ein ›Ich könnte ihm die Augen auskratzen‹-Ton in deine Stimme schleicht, obwohl du ansonsten gerade wie ein Pudding bist, den man nicht an die Wand nageln kann.«
Trotz Lenas Sticheleien musste ich lachen. Ich war also ein schlabberiger Pudding – auf solche Ideen kam auch nur meine bescheuerte Freundin. »Hör endlich auf, auf mir rumzuhacken. Außerdem ist es jetzt viel wichtiger herauszufinden, was Solveig hier will.«
»Na, ich glaub ja nicht, dass sie hergekommen ist, um Nikolai zu seinem schicken Glaspalast zu gratulieren. Diese Solveig sieht ganz schön biestig aus.«
»Bestimmt hat er sie eingeladen, denn ansonsten könnte sie die Festung doch gar nicht sehen.«
Lena klatschte wie ein Kind in die Hände. Die wieder erwachende Vertrautheit zwischen uns schien sie regelrecht zu beflügeln. »Oh, eine Party, super! Ob wir wohl auch eingeladen sind? Das letzte Mal, als wir mit Niki-Schatz zusammen gefeiert haben, war ja brandheiß.«
Ich erwiderte Lenas böses Grinsen und für einen Moment war ich wieder von ganzem Herzen ihre Freundin. Auf meine Erinnerung war nur noch bedingt Verlass, aber für die Gegenwart reichte uns das.
»Wir sollten es wie die Profis machen: den richtigen Moment abwarten, in dem einem die komplette Aufmerksamkeit sicher ist, und dann die Tanzfläche stürmen.«
Lenas Grinsen nahm diabolische Ausmaße an. »Kluges Mädchen. Wir halten uns schön brav zurück, bis wir wissen, was hier abgeht. Und dann – peng!«
Ich nickte lediglich, denn nun flog Nikolai auf Solveig zu. Sie machte keinen sonderlich begeisterten Eindruck, beste Kumpels waren die beiden offenbar nicht. Ihre Miene änderte sich erst, als sie gemeinsam auf die Brüstung der großen Halle zuhielten und Solveig einen Eindruck von der Größe des Glasgebildes erhielt. Mit einem solchen Kunstwerk hatte sie wohl kaum gerechnet, schließlich galt Nikolai unter den Schattenschwingen als Tunichtgut. Rasch warf ich noch einen Blick auf Solveig, bevor sie aus meinem Sichtfeld verschwand. Als ihr Erdbeermund vor Erstaunen ein rundes »O« formte, sah sie richtig jung aus. Keine Frage, Nikolai hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, um sie zu beeindrucken.
»Lass uns die Wendeltreppe runterschleichen«, sagte Lena, die bereits die Bernsteinkette hochhob, damit sie beim Gehen kein Geräusch auf dem Boden verursachte. Obwohl die Kette ausreichend lang war, hatte die Spange, mit der sie über ihrem Fuß befestigt war, die Haut aufgerieben. Bislang hatte Lena nicht ein einziges Mal darüber geklagt, dabei mussten ihr die teils verkrusteten und teils offenen Stellen immerzu Schmerzen zufügen. »Falls Nikolai uns beim Lauschen erwischt, schreien wir geradewegs heraus, dass er die Reinkarnation des Schattens ist, okay?«
»So laut, wie es nur geht«, versprach ich.
Leise wie die Mäuschen tapsten Lena und ich die Wendeltreppe hinunter und verharrten dann
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