Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
stocksteif auf den letzten Stufen, weil die Wolke, die den Gang umgab und uns bislang geschützt hatte, vom Wind davongetrieben wurde. Dieses gläserne Gebilde war wirklich ein Albtraum für jeden, der Schutz vor neugierigen Blicken suchte. Nikolai und sein Besuch standen zwar ein ganzes Stück von uns entfernt, aber sie brauchten nur einmal zur Seite zu schauen, dann wäre unser kleiner Lauschangriff passé.
»… warum überrascht es dich, dass die Aufbruchsstimmung, von der alle Jüngeren unter uns Schattenschwingen ergriffen sind, auch mich beflügelt?«, fragte Nikolai gerade mit so viel ehrlichem Erstaunen, dass ich ein Schnaufen nur mit Mühe unterdrücken konnte. Ein super Schauspieler war er also obendrein.
Solveig zuckte mit den Schultern. »Du hast recht, der Energie, die durch die Wahrheit über unsere eigentliche Natur freigesetzt wurde, kann sich keiner entziehen. Es war ein riesiger Befreiungsschlag, endlich zu wissen, dass wir zu mehr erschaffen wurden als dazu, bis in alle Ewigkeit ein dröges Dasein zu fristen. Allein, was du hier aufgebaut hast, beweist doch, zu welchen großartigen Dingen wir imstande sind.«
»Wenn man uns lässt«, streute Nikolai kräftig Salz in die Wunde.
Prompt ließ Solveig ein Knurren vernehmen, bei dem Lena nach meiner Hand griff. Dieses Mädchen mochte jung aussehen oder es vielleicht sogar sein, aber das machte sie keineswegs ungefährlich. Schließlich musste es einen Grund geben, warum Nikolai sich unter all den Schattenschwingen ausgerechnet für sie als Bündnispartnerin entschieden hatte. Während Lena nervös mit der Bernsteinkette herumspielte, sah ich mich um. Wir brauchten ein Versteck, und zwar sofort. Mein Blick fiel auf eine der Wasserquellen, die ein kunstvoller Rahmen umgab, in dem sich das Glitzern des Wassers spiegelte. Lena hatte sie verächtlich »Nikis Brunnen des Unvergänglichen Kitsches« getauft, aber der Rahmen würde uns einen sichereren Schutz bieten als die unzuverlässigen Wolken. Mit Wahnsinnsherzklopfen zog ich Lena hinter mir her.
»Ich werde es diesem Hurensohn Asami nie verzeihen, dass er mein Wolkenportal blockiert hat. Als wäre ich ein dummes Kind, dem er einfach sein Spielzeug wegnehmen kann, nur weil er es für gefährlich hält. Dafür wird er bezahlen, er und seine gesamte Sippschaft aus alten Knochen, die uns niederhalten wollen.«
»Es sind nicht nur die Alten, die uns unterdrücken. Selbst unter uns Jüngeren gibt es solche, die die Wiederaufnahme der alten Künste und unserer Rolle in beiden Welten verhindern wollen.«
Daher wehte also der Wind. Gleich würde er gegen Sam ins Feld ziehen, ihn als Feind darstellen. Abrupt blieb ich stehen und brachte dadurch Lena aus dem Gleichgewicht. Sie fing sich sogleich wieder, aber die Kette raschelte über den Boden. Nikolais Blick wanderte über seine Schulter, aber kurz bevor er uns erreichte, redete Solveig weiter, und seine Aufmerksamkeit galt sofort wieder ihr.
»Uns beide verbindet offenbar sehr viel: der Wunsch, die eigenen Fähigkeiten zu erforschen und sich dabei auf keinen Fall mehr Einschränkungen aufzuerlegen, nur weil irgendwer das für richtig hält. Außerdem hast du eine besondere Beziehung zum Wolkenreich, wie ich sehe.« Sie legte ihre Hand auf Nikolais Unterarm, was dieser mit einem kühlen Lächeln geschehen ließ.
»Es hat für mich nie zur Debatte gestanden, woanders als zwischen den Wolken zu siedeln.«
Ich fragte mich, worauf die kämpferische Solveig bei Nikolai mehr hereinfiel: auf sein engelsgleiches Aussehen oder seine Vorliebe für luftige Höhen? Beides setzte er jedenfalls gnadenlos ein, um sie einzuwickeln.
Lena und ich fanden im letzten Moment Zuflucht hinter der Umrahmung der Quelle, denn Solveig wendete sich unvermittelt von Nikolai ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Eine Sache beunruhigt mich allerdings. Es heißt, deine Pforte sei mit der von Kastor verbunden und ihr wärt deshalb wie Brüder … Er gehört zwar nicht direkt den Wächtern an, aber ich will trotzdem wissen, auf wessen Seite du stehst, falls Kastor sich für die falsche, nämlich für Asamis Seite, entscheidet.«
Es kostete mich unendlich viel Kraft, still zu halten, während Nikolai bedächtig nickte, als würde er der Frage Respekt zollen. Dabei lachte er sich vermutlich gerade ins Fäustchen, wie leicht diese ahnungslose Solveig es ihm machte. Wieder einmal zeigte sich, dass der Schaden, den die Wächter mit ihrer Unterdrückung allen Wissens hervorgerufen
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