Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
hervorzubringen. Mein Mund war ausgetrocknet und meine Kehle schmerzte, als wäre sie verbrannt.
»Sam, da bist du ja wieder«, sagte Reza. Von der Lebensfreude, die sie ansonsten stets verströmte, war nicht ein Funken übrig geblieben. Selbst über ihrem Kupferhaar lag ein Grauschleier. »Wir haben uns schreckliche Sorgen um dich gemacht. Du wärst fast gestorben, erst vor ein paar Stunden haben sie dich von der Intensivstation hierher verlegt. Was ist nur geschehen?«
Erneut versuchte ich, etwas hervorzubringen.
Erneut scheiterte ich.
Daniel Levander stand auf und goss mir ein Glas Wasser ein. »Es ist gut, überanstreng dich nicht.«
Bei dem mühsamen Versuch, mich aufzusetzen, verlor ich fast die Besinnung. Ich war viel zu schwach dafür, außerdem fraß sich ein widerwärtiger Schmerz durch meinen Brustkorb, sobald ich mich regte. Mein Körper mochte die Vergiftung durch das unvollendet gebliebene Sklavenzeichen überstanden haben, aber die war noch nicht ausgeheilt. Deshalb musste ich akzeptieren, dass Herr Levander mir aufhalf und mir sogar das Glas anreichte.
Brennend und wohltuend zugleich glitt das Wasser meine Speiseröhre hinab. Dabei kapierte ich allmählich, dass Milas Eltern sich meinetwegen Sorgen machten – und das, während ihre Tochter spurlos verschwunden war. Es war mir allem Anschein nach tatsächlich gelungen, Teil dieser Familie zu werden. Diese Verbundenheit würde in dem Moment zerbrechen, in dem ich meine Stimme wiederfand und ihnen erzählte, wer ich in Wirklichkeit war und weshalb ihr Kind nicht länger bei ihnen war.
Wie schnell sich das Blatt doch wenden konnte. Gerade noch war alles perfekt erschienen, dann zerfiel binnen einiger Stunden mein Leben zu einem Scherbenhaufen, und jetzt war ich gezwungen, das Letzte, das auf dem Schlachtfeld heil geblieben war, gleichfalls zu zerschlagen.
»Mila …«, brachte ich hervor.
»Lass uns darüber sprechen, wenn du dich ein wenig erholt hast.« Daniel Levanders Gesicht bestand nur aus Furchen und Schatten, als wäre seit der Nacht, in der ein Flammenmeer auf nacktem Beton ausgebrochen war, ein halbes Leben vergangen.
Ich sammelte mich. »Mila ist fort.«
Reza sprang auf und riss meine Hand mit nach oben, was mir wegen der Kanüle einen peinigenden Stich versetzte.
»Das wissen wir nicht! Die Bergungsarbeiten bei der eingestürzten Halle sind noch im vollen Gange. Bestimmt sind Lena und sie in einem Hohlraum unter dem herabgestürzten Hallendach gefangen und warten gemeinsam auf ihre Rettung. Wahrscheinlich haben sie ein paar Verbrennungen und Hautabschürfungen, so wie die anderen Partygäste. Zum Glück gab es keine Toten …« Ihre Stimme brach.
»Sie ist nicht in der Halle«, zwang ich mich zu sagen, obwohl sich die weiche Schwärze in mir ausbreitete, so verlockend, dass ich ihr nicht lange würde widerstehen können. »Mila wurde verschleppt. Nikolai hat sie mitgenommen.«
»Wer ist Nikolai? Wohin hat er sie mitgenommen?«, stellte Daniel Levander die alles entscheidenden Fragen.
Ja, wohin? Falls er nach Kastors Angriff nicht ebenfalls erloschen war und Mila mit ihm. Mit seinen letzten Worten hatte Kastor zwar versichert, er hätte Nikolai ihretwegen verschont, aber hatte sie die Zerstörung der Pforte wirklich überstanden?
Der übermächtige Wunsch, darauf eine Antwort zu finden, nahm mich gefangen und riss mich mit. Dann wurde alles schwarz.
∞∞
Als ich zu mir kam, war es Nacht. Es war dunkel bis auf das Licht, das unter der Tür vom Flur hereinfiel. Um mich herum wurde geschnarcht und im Traum gestöhnt.
Ich hasste das Krankenhaus von St. Martin. Schließlich hatte ich dank Jonas und seiner Gewaltattacken meine halbe Kindheit in dieser nach scharfen Putzmitteln und der Verzweiflung kranker Menschen riechenden Umgebung verbracht. All ihre traurigen Geschichten hatten sich vor meinen Augen abgespielt, während ich mit meinem eigenen Elend zu kämpfen hatte. Wie oft hatte ich befürchtet, gleich zerspringen zu müssen? Dieser Ort war zweifelsohne nicht der richtige für mich.
Ich brauchte mehrere Anläufe, um mich im Bett aufzusetzen. Während ich gegen den Schwindel ankämpfte, bemerkte ich eine vornübergebeugte Gestalt, deren Kopf auf meinem Bettzeug ruhte. Rufus. Er schlief tief und fest, wie ich erleichtert feststellte. Seine dunklen Locken hingen ihm ins Gesicht und in der geballten Hand hielt er etwas, das verdächtig nach einer Fotografie aussah. Ich verdrängte die Überlegung, wer darauf abgebildet sein
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