Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
müsste stehen bleiben. Aber das tat es nicht. Verdammt noch einmal, es tat es einfach nicht! Ganz im Gegenteil, es schlug schmerzhaft schnell gegen meine Rippen, als wollte es sie durchbrechen.
Eben noch hatte Stille geherrscht, weich und mild, nichts hatte mich berührt, Vergangenheit und Gegenwart waren ausgelöscht gewesen. Einen wunderbaren Augenblick lang hatten sich Schwarz und Weiß vor meinen Augen vereint, mich befriedet … bis die Stille einen grausamen Beiklang bekommen hatte. Es dröhnte, als wäre eine mächtige Glocke geschlagen worden. Es war mein Ring gewesen, der ein Zeichen der Verzweiflung aussendete, weil er von seinem Gegenstück keinen Widerhall mehr erfuhr. Mila … ich hatte mich nach ihr gesehnt und in die Gegenwart zurückgefunden, als fiele ich aus einem Traum. Hinein in den schlimmsten Albtraum von allen, in dem ich geschwächt am Boden lag und es nicht einmal schaffte, ihren Namen laut auszusprechen.
Bevor ich erneut dazu ansetzte, tauchte Nikolai im von Ascheflocken durchwirkten Rauch auf, der so dick in der Luft lag, dass meine Lungen sich zusammenkrampften.
Unter Qualen zwang ich mich ein Stück in die Höhe, für mehr reichte meine Kraft nicht aus.
Nikolais Gesicht war wutverzerrt, als er die zusammengesunkene Mila an sich riss.
Ich konnte nichts anderes tun, als zuschauen, gefesselt an meinen nutzlosen Körper. Verzweifelt streckte ich mich, erreichte das blutbesudelte Katana mit den Fingerspitzen, nahm meine ganze Kraft zusammen, um seinen Griff zu umfassen, und zog es an mich.
»Nikolai, warte!«
Ascheschwaden wirbelten um Nikolai auf – ein grauweißer Schleier, Teil einer anderen Welt – und raubten mir fast die Sicht. Trotzdem fand sich unser Blick. Er lächelte.
Komm du zu mir, Samuel.
Dann leuchtete seine Aura auf, ein gräulicher Eiszapfenkranz, während er, lediglich ein paar Armlängen von mir entfernt, die Aschepforte durchschritt.
Rühr dich nicht von der Stelle, du bist viel zu stark verletzt, um ihm zu folgen. Kastors Gedankenstimme zerschnitt meine Qualen. Ich werde dafür sorgen, dass dieser verfluchte Dieb Nikolais Pforte nicht lebend verlässt. Und wenn es das Letzte ist, das ich tue.
Wen interessiert diese Pforte? Kümmere dich um Mila!
Doch es war zu spät. Die Umrisse von Nikolai und seiner Gefangenen begannen bereits, sich in feinste Ascheflocken aufzulösen.
Mit ausgebreiteten Schwingen stürzte Kastor in die sich atemberaubend schnell verdichtende Wolke. Das Letzte, was ich mitbekam, war ein Schmerzensschrei, der nach Nikolai klang. Kastor hatte seine Rache offenbar bekommen. Dort, wo sich eben noch die Öffnung der Pforte abgezeichnet hatte, sah ich jetzt ein so helles Licht, als starrte ich in reines Weiß. Es schmerzte, und nach einem Blinzeln erkannte ich ein schwarzes Loch, wo vorher das Weiß gewesen war. Die Pforte, die einst Nikolai gehörte, hatte sich in ein Nichts verwandelt.
Dann breitete sich eine Schallwelle aus und ließ die eben noch meterhoch züngelnden und undurchdringlichen Feuerwände von einer Sekunde auf die andere verschwinden. Sie erloschen nicht einfach, sondern es war, als hätte es sie nie gegeben. Dann setzte sich die Welle im Umkreis der geöffneten Pforte fort, als wollte sie auch den kleinsten Partikel aus Asche oder andere Spuren des Feuers tilgen. Sie fräste sich durch meine rauchgefüllten Lungen, schabte den Ruß von meiner Haut und vernichtete jede einzelne Ascheflocke, die sich in meinem Haar verfangen hatte. Es war ein grausamer Reinigungsprozess, dem ich kaum etwas entgegensetzen konnte, während das Katana hell erstrahlte. Dann war die Welle durch mich hindurch und ließ mich am Boden liegend zurück.
Kein Feuer, keine Asche, nicht die schwächste Spur von Rauch waren in der Luft zurückgeblieben. Selbst die schwarzen Schlieren waren von meiner Haut verschwunden. Ich atmete klare Nachtluft, in ihr lagen Salz und Tang, ein tröstlicher Gruß vom Meer.
Endlich gelang es mir aufzublicken, obwohl mir vor dem graute, was da war. Oder vielmehr nicht da war.
Und tatsächlich. Mila war verschwunden, gemeinsam mit Nikolai. Wohin auch immer, ich wusste es nicht, und dieses Mal würde mir auch kein Ring den Weg zu ihr zeigen.
Dafür war jemand anderes zurückgeblieben: Kastor. Der Länge nach ausgestreckt lag er auf dem Betonboden der Halle, als wäre er so gestürzt, wie er Nikolai entgegengesprungen war. Von seinen Schwingen, die eben noch weit ausgebreitet gewesen waren, fehlte jede Spur, genau wie seine
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