Schattenseelen Roman
nachdem sie ihn gekratzt hat?« Er tigerte durch das Zimmer wie ein Wolf in einem Gehege. Ein taffes Mädchen, diese Schwester. Die meisten Menschen verwandelten sich in den Armen der Kreaturen zu willenlosen Puppen.
»Sie hat sich von ihm losgerissen.«
Kilians Nasenflügel flatterten. Sollte die Kleine danach etwas berührt haben, dann hatte er die Bestie erwischt. Er stürzte in den Flur hinaus.
»Ich brauche die Sachen von Schwester Evelyn!«,
rief er, ohne imstande zu sein, seine Erregung zu verbergen. Verständnislose Blicke trafen ihn. »Irgendetwas, das ihr gehörte. Sofort!«
Niemand rührte sich.
»Na, wird’s bald?«, brüllte er.
Die Traube aus Schwestern stob auseinander. Endlich hielt es jemand für nötig, seiner Bitte nachzukommen. Nach einigen Minuten wurde ihm eine Tasse mit einem bunten Mäulchen vorne und einer Aufschrift EVELYN gereicht.
»Meinen Sie so etwas?«, stammelte die Schwester.
Er drehte den Becher in der Hand, in dem noch die Kaffeereste schwappten. Nicht die beste Variante, aber immerhin etwas. Er führte sich die Tasse an die Nase und schloss die Augen. Allerlei Gerüche hafteten daran. Kilian entschied sich für den stärksten, der kein Kaffee war. Überlagert von einem Veilchen-Parfüm, schälte sich langsam die gesuchte Duftnote heraus. Mehrfach sog Kilian sie ein, voller Sorge, sie in diesem Mischmasch zu verlieren. Der Veilchengestank reizte seine Nase, aber ohne ihn gab es auch nicht den Duft der Frau, der genauso leise und dennoch nachhaltig wie ihr Name war - Evelyn. Kilian spürte ein warmes Kribbeln in seinem Inneren. Etwas, das in ihm den Drang auslöste, diese Frau zu suchen, sie unbedingt zu finden.
Endlich ließ er die Hand mit der Tasse sinken, wobei er vergaß, dass der Becher noch einen Rest Flüssigkeit enthielt. Kalter Kaffee lief ihm das Hosenbein
hinunter. Er ignorierte es und konzentrierte sich auf die Gerüche im Flur. Er witterte das billige Parfüm der Schwestern und den Schweiß der Polizisten, er roch sogar, dass die Frau im Blümchen-Bademantel ihre Tage hatte. Desinfektionsmittel, Staub, Spuren von Urin und Erbrochenem - alles im Flur vermischte sich zu einer dicken Suppe an Gestank.
Kilian ging zum Fenster und beugte sich über den Sims. Da war er wieder, der Duft von Schwester Evelyn.
Er verfolgte ihre Spur zurück, den Flur entlang, völlig besessen von ihr. Er musste ein seltsames Bild abgeben, denn alle beäugten ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis. Zum wiederholten Male in seinem Leben wünschte er ebenfalls die Gabe zu haben, die Erinnerungen der Menschen zu manipulieren. Das hätte ihm viel Peinlichkeit erspart! Nun ja. Er sollte vermutlich dankbar sein, dass seine Entwicklung ihn noch nicht dazu veranlasste, das Bein zu heben und an einen Pfeiler zu pinkeln. Leider konnte ihm keiner sagen, was ihn noch erwartete und wie schlimm es für ihn enden würde …
Kilian kümmerte sich nicht weiter um die Schaulustigen und folgte der Fährte bis zu einem Krankenzimmer. Er beugte sich zur Klinke, tat so, als begutachte er sie. In Wirklichkeit blähte er die Nüstern und schnupperte daran.
Nichts, was er sich erhofft hatte. Entweder hatte sie die Tür mit der anderen Hand aufgemacht oder den
Totenküsser nicht stark genug gekratzt, um seinen Geruch anzunehmen.
Verdammt nochmal, er konnte doch unmöglich so viel Pech haben! Und das, wo er sich seines Erfolges doch so sicher gewesen war.
Kilian schlüpfte in den Raum. Evelyn hatte sich gegen die Tür gelehnt und sich dann weiter zur Wand geschoben. Hier eine Weile verharrt. Er witterte ihre Angst; es löste in ihm das Bedürfnis aus, sie zu beschützen. Vor dem Wesen, das sie verfolgt hatte, das den Flur entlanggeschlichen war, während sie sich hier zusammengekauert und auf Rettung gehofft hatte. Er hätte ihre Rettung sein können, wenn er bloß früher gekommen wäre.
Zusammen mit ihrem Duft, der ihm die Illusion schenkte, sie wäre bei ihm, ging er zurück zum Fenster und ließ sich vor dem Sims nieder.
Erwischt! Es durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. Da war er, der Geruch des Todes. Kaum wahrnehmbar und doch stark genug, um ihn zu identifizieren, unverwechselbar, wie ein Fingerabdruck. Kilian sog ihn in seine Nase, und die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Nun ahnte er, warum ausgerechnet er die Vision empfangen hatte.
Er hatte viele Bestien gejagt. Es schenkte ihm Genugtuung, sie zu verfolgen, zu stellen und zuzusehen, wie sie langsam und qualvoll
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