Schattenseelen Roman
darauf einzugehen. Stattdessen spazierte sie durch das Zimmer. Auch hier waren die Gardinen zugezogen und ließen kaum Licht in den Raum.
»Ist es morgens?«
»Abends.«
Sie ignorierte die Kartons mit den Boutique-Labels auf dem Sofa und nahm einen der Briefe vom Beistell-Tischchen. »An Herrn Adrián Rivas Sarmiento.« Sie überflog den Inhalt. »GEZ nicht bezahlt? Also pfui.«
Bei so viel Frechheit verlor er für einen Moment die Sprache. Sie nutzte den Augenblick. Auf keinen Fall sollte er bemerken, wie unsicher sie sich fühlte, wie viel Chaos ihr durch den Kopf ging und wie verzweifelt sie nach einer Möglichkeit suchte, hier wegzukommen. »Ich habe Hunger. Soweit ich weiß, ist es laut Genfer Konvention verboten, Gefangene verhungern zu lassen.«
Er schaute sie so misstrauisch an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, gleich auf dem Teppich eine Nummer zu schieben. »Was genau meinst du mit … Hunger?«
»Na, was denn wohl?« Sie schritt in die Küche, wo sie entschlossen den Kühlschrank öffnete, nachdem sie zuerst den Abstellschrank mit einem Besen erwischt hatte.
Hoppla. Der Kühlschrank war nicht nur leer - er war nicht einmal angeschlossen. Und da sollte jemand behaupten, einen Mann erkenne man am Inhalt seines Kühlschrankes.
»Mit dem Kochen hast du nicht viel am Hut, was?«
Während er sie wie einen Besatzer beobachtete, der gerade dabei war, seine Festung zu plündern, holte sie aus einem Hängeschrank eine Tasse. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Interessant.
»Warte.« Adrián fand wieder zu sich. »Ich denke, wir müssen miteinander reden.«
»Ehrlich? Jetzt schon?« Sie spülte die Tasse aus und schenkte sich Leitungswasser ein. Wenigstens den Durst konnte sie stillen und diesen scheußlichen Geschmack im Mund wegspülen. »Ich schätze, in der Entführungsbranche bist du ziemlich neu. Für Krankenschwestern bekommt man nicht sonderlich viel Lösegeld. Willst du einen Tipp? Ich habe gehört, Robbie Williams ist in der Stadt.«
»Ich habe dich gerettet«, protestierte er.
»Ach.« Evelyn beobachtete, wie er sich geräuschlos durch das Zimmer bewegte. Von Kindertagen an hatte sie sich angewöhnt, Menschen mit Tieren zu vergleichen. Adrián Rivas Sarmiento erinnerte sie an einen Panther: anmutig, voller Kraft, wild und gefährlich. Vor ihm musste sie auf der Hut sein.
»Hör zu.« Er fuhr durch sein dunkelbraunes Haar, das ihm bis zum Nacken reichte und immer noch keine Begegnung mit einem Kamm erfahren hatte. »Erst mal: Das mit deinem Kollegen, diesem Arzt, tut mir …«
Der Zorn überfiel sie so plötzlich, als hätte er nur auf seine Chance gewartet. »Es tut dir leid?« Sie knallte die Tasse auf den Tresen. »Du hast ihn umgebracht,
den …« Sie biss sich auf die Lippe und schluckte ›Mistkerl‹ hinunter. Es überraschte sie, wie sehr es sie wurmte, dass der liebe Doktor jedem Rock nachgelaufen war.
Als ahnte Adrián, was ihr durch den Kopf ging, meinte er: »Er hat dich gemocht. Seine letzten Gedanken galten dir und einem heißen Kaffee mit Zucker und Sahne.«
Evelyn verschlug es die Sprache. Gefährlich! Er war gefährlich. Viel mehr, als sie vermutet hatte. Sie nahm einen großen Schluck Wasser und spülte sich den Mund. »Du hast eine seltsame Art, dich für etwas zu entschuldigen. Meinst du, das macht es mir leichter?«
»Vermutlich nicht. Aber dein Doktor kann sich jetzt nicht gegen deine Anschuldigungen wehren.«
»Sag bloß! Und du bist der Verfechter der Gerechtigkeit, der Beschützer aller Armen und Kranken? Ach ja, und mein Retter obendrein.« Sie biss sich auf die Zunge, um ihren Redefluss zu stoppen. Zögerte. »Hast du tatsächlich meine Gedanken gelesen?«
»Du hast es mir erlaubt. Ungewollt, vermutlich.«
Evelyn fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Langsam ist das alles zu viel für mich. Wer bist du? Was willst du von mir?« Panik stieg in ihr auf, deren Ausbruch sie nur mit Mühe niederkämpfen konnte.
»Es ist alles sehr kompliziert.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Sag mir endlich, was los ist!«
Er öffnete den Mund, gerade in dem Augenblick, als
es an der Tür klingelte. Auf sein Gesicht schlichen sich Freude und eine schlecht verborgene Erleichterung. »Moment.«
Er ging - nein, eher floh er in den Korridor, und sie hörte ihn am Türschloss fummeln.
»Adrián!«, ertönte eine Frauenstimme, deren Fröhlichkeit Evelyn unangenehm in den Ohren zwirbelte. »Du hast genau fünf Minuten, um mich davon abzuhalten, dir das Fell über
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