Schattenseelen Roman
ihr auf keinen Fall näherkommen.
»Du hattest Recht, du wärst besser dran, wenn du mich im Krankenhaus mit diesen … wie nennst du sie? … Metamorphen gelassen hättest. Ich treibe jeden, der mir nahekommt, in die Zerstörung. Und ein Stückchen von mir selbst gleich mit.«
Ein Geräusch an der Tür lenkte sie ab. Im Rahmen stand ein junger Mann Anfang zwanzig. Das hellbraune Haar mit dem rötlichen Schimmer war verwuschelt und ließ ihn keck wirken. Er trug einen dunkelblauen Pullover, aus dessen Ausschnitt der blütenweiße Kragen eines Hemdes ragte. Dazu passten seine schwarze Bügelfaltenhose und die auf Hochglanz polierten Lederschuhe perfekt. Eine Art Prinz William in lässig und ganz privat.
»Dass er Sie hören kann, ist Ihnen schon klar, oder?« Er lächelte, und auf seinen Wangen erschienen zwei niedliche Grübchen. Nur die Augen blieben ohne jede Spur von Frohsinn und seltsam leblos.
Evelyn spürte, wie ihr die Röte in die Wangen
schoss. Sie wusste nicht, was ihr peinlicher war: dass der junge Mann ihr zugehört hatte, dass Adrián ihre Worte tatsächlich vernommen haben könnte oder dass sie sich einem Unbekannten in einem zerrissenen, blutbefleckten Hemd präsentierte.
»Ich sollte mich vielleicht vorstellen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Conrad Wensley.« Er sprach ohne Eile und so leise, als wollte er nicht wirklich gehört werden. Die ›A‹-Laute klangen bei ihm dunkler als gewöhnlich, und das ›ch‹ ähnelte eher einem ›kh‹, aber nur, wenn man darauf achtete. »Und Sie müssen Lynn sein.«
Für eine Sekunde hielt Evelyn den Atem an. Niemand nannte sie so. Außer …
Ihre Gedanken schweiften zu ihrem sechzehnten Geburtstag. Eigentlich hätte sie in der Schule sein müssen, doch eine Grippe hatte sie ins Bett gezwungen. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag! Sie schaute gerade fern, als es an der Tür klingelte. Ihre Mutter, die an diesem Tag zu Hause geblieben war - das Geburtstagskind sollte nicht allein sein -, schnellte aus der Küche. Doch Evelyn war zuerst da.
Draußen stand ein kleiner Karton mit einer roten Schleife. Kein Absender, keine Briefmarke, kein Poststempel - nur zwei Worte: Für Lynn. In der Schachtel fand sie eine schwarzrote Calla und eine Spieluhr, die das Mozart-Requiem spielte. Ihre Mutter schimpfte, sie solle alles wegwerfen. Kurz später erfuhr Evelyn die Wahrheit …
Es war seltsam, die Abkürzung ihres Namens von diesem Unbekannten zu hören. Seltsam und befremdlich.
»Evelyn«, verbesserte sie ihn trocken und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin.
»Natürlich, Verzeihung.« Er ignorierte ihre Geste. »Ich nehme an, Mylady ist abwesend?«
Sicherlich meinte er Maria. Evelyn senkte den Arm und nickte. Wie der Mann sich bewegte und sprach, hatte etwas Elegantes, sogar Stolzes an sich. Vielleicht war er sich zu fein, um sie mit einem Handschlag zu begrüßen. Vielleicht aber kannte sie die Gepflogenheiten dieser … Wesen … zu schlecht.
»Dann sollten wir woanders auf sie warten«, meinte er. »Ich wäre sehr erfreut, Ihre Gesellschaft auf der Terrasse genießen zu können. Wären Sie geneigt, meinem Wunsch nachzukommen?«
Wieder brachte Evelyn bloß ein stummes Nicken zustande.
Er kannte sich im Haus gut aus. Auf der Terrasse, von der aus man einen Blick auf das Tor und auf den Platz vor dem Hauseingang erhaschen konnte, stellte Conrad zwei Rattansessel auf und brachte Evelyn eine dünne Decke.
»Danke.« Ihre Finger berührten sich, während sie die Decke entgegennahm.
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Immer zu Ihren Diensten.« Er lächelte sein Grübchenlächeln,
doch seine braunen Augen blieben weiterhin ausdruckslos und kalt.
Evelyn setzte sich. Sie zog die Beine an sich, breitete die Decke darüber und stützte ihr Kinn auf die Knie. »Was meinten Sie damit, Adrián könne uns hören?«
Er setzte sich in den Sessel neben sie. »Wir nennen es Todeskoma. Im Gegensatz zu den anderen bleiben wir auch nach dem Tod bei Bewusstsein.« Er sprach immer noch sehr leise. Evelyn musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen.
»Wie kann das sein?«
»Es ist ein Teil des Fluches, der es den Nachzehrern unmöglich macht, sich von dieser Welt zu lösen. Rivas … ich meine Adrián … wurde einst geköpft, verbrannt und seine Asche in der Elbe verstreut. Es dauerte lange, bis er zurückkam.«
»Ich verstehe nicht ganz. Hat er sich aus der Asche materialisiert?«
»Hmmmm. Es ist wie nach dem ersten Tod: Man saugt die
Weitere Kostenlose Bücher