Schattenseelen Roman
stotterte Evelyn, zu verwirrt, um zu begreifen, was Maria von ihr wollte.
»Das merke ich. Tu es nie wieder. Wer in die Augen eines toten Nachzehrers sieht - ich meine: des Leichnams -, wird in seinen Bann gezogen und mit ihm bis auf alle Ewigkeiten vereint. Einem Menschen kann er auf diese Weise die Lebensenergie aussaugen, ohne ihm nahe zu sein. Aber du bist kein Mensch. Er würde dich ins Jenseits ziehen, und dann wärt ihr beide verloren.« Maria beugte sich nach hinten, fuhr Adrián über das Gesicht und schloss ihm die Augen. »Ich hoffe für dich, dass du noch nicht zu weit in die Dunkelheit gegangen bist.«
»Bin ich nicht«, versicherte Evelyn und verschwieg, dass sie ihm bereits in der Notaufnahme in die Augen gesehen hatte. Konnte sie ihn deshalb spüren und er so einfach ihre Gedanken lesen? Fand sie ihn deshalb auf Anhieb so anziehend, weil sie bereits miteinander verbunden waren? Auch jetzt, ohne Adrián anzublicken, hörte Evelyn ihn nach ihr rufen. Sie musste doch etwas unternehmen! Sie musste ihm helfen … Aber du kannst es nicht, bremste sie sich. Maria weiß schon, was zu tun ist.
Die Ampel schaltete auf Grün. Ohne Eile setzte die Goth-Lady den Wagen in Bewegung, begleitet von der Symphonie eines Hupkonzertes. Evelyn konzentrierte sich auf die Umgebung hinter dem Fenster und zwang sich, nicht an Adrián zu denken.
Bald kam der BMW in eine vornehme Gegend.
Blankenese - ein Stadtteil der Schönen und Reichen, ein Stadtteil, in den man hineingeboren wurde. Es hätte sie nicht gewundert, irgendwo ein Schild ›Blankenese - Einfahrt nur für Privilegierte‹ zu entdecken.
Inzwischen war es dunkel geworden. Der Wagen hielt vor einem gusseisernen Tor, das von einer mannshohen Natursteinmauer eingefasst war.
Maria drückte auf die Fernbedienung, und das Tor glitt auseinander, um das Auto auf einen gepflasterten Weg zu lassen, der an einem Vorbildrasen vorbei zur Villa führte. Das weiße Haus mit den hohen Säulen und einem Zierbalkon, von den Bodenstrahlern wie eine Sehenswürdigkeit beleuchtet, entsprach Evelyns Vorstellungen von einem Adelssitz. Ein perfekter Drehplatz für eine Soap à la ›Gräfin gesucht‹. Links und rechts vor der Treppe wachten zwei Löwen, die in den Pfoten ein Schild hielten. ›M. N. R.‹ war darauf eingraviert. Die Bäume trugen ordentlich geschnittene Kronen, und die Buchsbäumchen, die die Balustrade schmückten, waren zu komplizierten Figuren gestylt.
Maria stieg aus und drückte Evelyn einen Schlüsselbund in die Hand.
»Du wirst den mit dem ovalen Ende brauchen.« Genauso leicht wie vorhin hob sie Adriáns leblosen Körper auf die Arme. »Na mach schon«, trieb sie Evelyn an, die noch etwas ratlos auf der Rückbank saß. »Er ist schwerer, als du denkst.«
Evelyn krabbelte aus dem Wagen und lief die Treppe zur Eingangstür hinauf. In ihrer Eile brachte sie es
fertig, das Schlüsselloch mehrmals zu verfehlen. Das Schloss erwies sich als sperrig und widerstand ihren Versuchen, es zu öffnen. Auch Marias Blick, der sich in ihren Rücken bohrte, entspannte die Situation nicht gerade. Die Halle begrüßte sie mit einer angenehmen Kühle. Ein sanfter Blumenduft erfüllte die Luft. Zwei Treppen führten in einem Halbkreis zur Galerie der zweiten Etage. Die Bodenfliesen im Schachbrettmuster glänzten, und darin sah Evelyn ihr Spiegelbild. Noch besaß sie eines, dachte sie zynisch.
Die Samtgardinen verdeckten die Bogenfenster, und nur der Kristallkronleuchter unter der kuppelähnlichen Decke mit einer aufwändigen Freske warf sein künstliches Licht in den Saal. Während Evelyn im ersten Moment überwältigt die Innenarchitektur bestaunte, erreichte Maria die Galerie und verschwand im Flur rechts. Evelyn eilte ihr nach und trat in ein Schlafzimmer, das eher die Bezeichnung ›Gemach‹ verdient hätte.
Behutsam legte Maria Adrián auf das Bett und reckte sich. »Boah, der muss dringend abnehmen.« Das Grinsen verschwand aus ihrem Gesicht, als sie zu Evelyn schaute. »Conrad, unser Oberhaupt, wird bald herkommen. Kann ich dich für einige Zeit allein lassen, ohne dass du irgendwelche Dummheiten machst?«
Evelyn nickte stumm. Sicher war sie sich nicht. Die Dunkelheit wartete auf sie, und sie hörte das Murmeln, das sie zu sich lockte.
Komm her … lass uns frei …
»Gut. Sieh Adrián auf keinen Fall in die Augen, egal wie es dich lockt. Am besten, du gehst gar nicht erst ins Zimmer.« Maria wirkte müde, wie jemand, der nach einer ermattenden Arbeit noch eine
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