Schattenseelen Roman
Schicht hinterherschieben musste. »Ich versuche, so schnell wie möglich zurück zu sein.« Sie ging heraus. Dumpf schlugen ihre Boots auf das Parkett.
Evelyn gab sich einen Ruck und lief ihr nach. »Maria?«
Die junge Frau hielt an und hob fragend eine Augenbraue. Auch in ihrem skurrilen Outfit wirkte sie wie eine Lady und flößte Respekt ein, ohne ein Wort zu verlieren.
»Es … es tut mir wirklich leid, was passiert ist«, stotterte Evelyn. Besser ging es ihr dadurch nicht. Schuld und Hilflosigkeit lasteten auf ihr - etwas, was sie noch nie zuvor in solch einem Maße empfunden hatte.
»Mir musst du das nicht sagen.« Mit dem Kinn deutete die Lady zum Schlafzimmer. »Sag ihm das. Er ist ja für dich gestorben.« Sie lief die Treppe hinunter.
Evelyn trat ans Geländer und rief Maria hinterher: »Wo gehst du hin?«
»Nahrung besorgen. Und das so schnell wie möglich.«
Evelyn seufzte. Was auch immer das heißen mochte. Einen Imbiss meinte sie damit wohl kaum.
Eine Weile verharrte Evelyn auf der Galerie und starrte auf die schwarz-weißen Fliesen der Empfangshalle.
Das Haus war unheimlich still, und die Leiche im Schlafzimmer weckte nicht gerade Frohsinn in ihr. Um sich abzulenken, spazierte Evelyn durch das Anwesen und kam sich wie ein Geist vor, der einsam durch ein verlassenes Schloss streift.
Die Räume ließen nur schwer Schlüsse auf Marias Geschmack ziehen. Antike Möbel teilten ihren Platz mit modernen Designer-Stücken. Die Schränke mit Glasvitrinen präsentierten goldene Spieluhren, Malachitschatullen und sogar ein Fabergé-Ei - ob ein echtes oder eine Nachahmung vermochte Evelyn nicht einzuschätzen. Das Parkett mit Ornamenten erinnerte an einen Palast und zwang Evelyn, sich nach Museumspantoffeln umzusehen. Mit schmutzigen Füßen über dieses Meisterwerk zu latschen, glich einem Sakrileg.
Auf ihrem Rundgang traf sie keine Menschenseele. Die Neugierde trieb sie dazu, Ausschau nach Briefen oder Ähnlichem zu halten, um irgendwelche Hinweise auf Marias Identität zu erlangen. Sie wusste, das gehörte sich nicht, aber ihr Leben stand derzeit so sehr auf dem Kopf, dass sie all ihre Manieren oder guten Vorsätze über Bord warf. Doch sie suchte vergeblich nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Diese Frau wusste ihre Identität gut zu verbergen.
In einem der Zimmer entdeckte Evelyn ein Künstleratelier mit vielen Staffeleien, Leinwänden und losen Blättern mit Zeichnungen und Aquarellen: Stillleben, Landschaften, Skizzen von Menschen und Tieren. Eine Leinwand war mit einem Tuch bedeckt. Evelyn zog
an der Ecke und drehte das Bild mit der Vorderseite zu sich. Vier junge Frauen in langen, weißen Kleidern - fast noch Mädchen - blickten ihr ernst entgegen. In ihrer Mitte saß ein Junge in einem Matrosen-Jäckchen.
Wenn Evelyn sich Maria ohne Schminke und ebenfalls in einem weißen Kleid vorstellte, so glich die Lady einer der Frauen. Waren die vier ihre Geschwister? Den Gewändern nach zu urteilen, stammten die Personen aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts.
Sie bedeckte das Bild mit dem Tuch und ging weiter. Schließlich gelangte sie in eine Bibliothek mit dem Kamin, den Maria in der - hoffentlich nicht ernst gemeinten - Drohung an Adrián erwähnt hatte. Regale vom Boden bis zur hohen Decke bekleideten die Wände und präsentierten seltene alte Bücher. Die meisten davon waren auf Russisch, wie Evelyn anhand ihrer bescheidenen Kenntnisse in Kyrillisch feststellte. Dazwischen standen französische und englische Klassiker in Originalsprache. Auch deutsche Bücher fanden hier ihren Platz: Goethe, Schiller und andere Berühmtheiten - nicht gerade die Art der Lektüre, die Evelyn bei einer Goth-Lady vermutet hätte.
Noch eine Weile streifte sie durch die Villa und merkte selbst, wie sie immer wieder zum Schlafzimmer zurückkehrte, obwohl sie alles daransetzte, um dem Raum fernzubleiben. Schließlich konnte sie jedoch nicht anders, als die Schwelle zu überschreiten.
Die Luft roch nach Tod. Evelyn ließ sich am Bettrand nieder und betrachtete Adrián.
»So ist sie, Evelyn Behrens, live und in Farbe. Nur Schwierigkeiten machen, sich selbst und den anderen.« Sie zupfte an ihrem Haar. »Unsere Beziehung haben wir beide so falsch angefangen, dass daraus wirklich was hätte werden können. Und mal ehrlich, gut aussehende Männer platzen nicht gerade häufig in mein Leben. Weißt du was? Es ist unfair.«
Aber vielleicht auch richtig so, beendete sie den Satz in Gedanken. Wen sie nett fand - der durfte
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